Panoramablick für die Crew: In der Sattlerei ist die erhaben platzierte Küche ein zentrales Gestaltungselement.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Die Heinestraße ist eine Allee und auch sonst ein richtiger Prachtboulevard, mit breiten Trottoirs, mit doppelter Nebenfahrbahn und schönen, alten Bäumen. So elegant angelegte Straßenzüge hat Wien nicht viele zu bieten, im Vergleich zu Berlin, Budapest oder Prag schon überhaupt.

Umso erstaunlicher wirkt, dass die Heinestraße außer einem wahrhaft poetischen Namen und pittoresk angeranzter Atmosphäre bis vor kurzem nur wenig zu bieten hatte – und gastronomisch so gut wie gar nix. Okay, das romantisch verwitterte Café Else wurde vor ein paar Jahren vom nächtlichen Anbahnungs- zum All-day-Frühstückslokal. Aber sonst?

Umso spektakulärer wirkt deshalb, was sich der vormalige Banker Jürgen Sattler und seine Familie während des Lockdowns an der Ecke Heinestraße/Mühlfeldgasse für einen Traum erfüllten. Das Haus ist eine Art "Flatiron Building" in Bügeleisenform, mit spitz zulaufender Fassade. Dementsprechend nimmt auch die Sattlerei den gesamten dreieckigen Grundriss der Immobilie ein.

Von Frühstück bis zum abendlichen Fine Dining

Bis vor ein paar Jahren war an diesem – damals doppelt spitzen – Eck ein Bordell untergebracht. Als spitz (und zwar in aller Breite) lässt sich auch das Konzept der neuen Betreiber beschreiben. Ab halb acht Uhr in der Früh gibt es richtig raffiniertes Frühstück, von pochiertem Ei auf English Muffin (!) mit Beinschinken, Blattspinat, Champignons und Sauce hollandaise über Vorarlberger Riebel mit Apfelmus bis zu richtig elaborierten levantinischen Gemeinheiten mit Lamm, Raz el Hanout und Nana-Minzjoghurt.

Mittags gibt es fortgeschrittenen Lunch zu Preisen, die manch etablierte Innenstadt-Adresse niemals abzurufen wagte. Und abends ist Fine Dining angesagt, in Kombination mit einer Weinkarte, die zwischen allerhand Frankreich und Deutschland einen reichhaltigen und sehr individuellen Querschnitt dessen bietet, was in Österreich richtig gut ist, aber zwischen den üblichen Verdächtigen oft übersehen wird.

Küchenchef ist der Brite Lewis Emerson, der als Jürgen Sattlers Schwiegersohn eine spektakuläre Küche samt Rauchglas-Panoramafenstern zum Gastraum spendiert bekam. Der Mann war in allerhand renommierten Hotels zugange, in der Sattlerei kocht er dessen ungeachtet sehr individuell. Es gibt Hirsch und Schweinshaxl, immer samstags einen klassisch British Roast samt Yorkshire Pudding, ein komplett veganes Fine-Dining-Menü aber auch.

Küchenchef Lewis Emerson kocht in der Sattlerei sehr individuell.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Und das hat schon was drauf. Die Kombination aus gesäuerten und rohen Rüben mit Birne zur Vorspeise sieht zwar in der Hauptsache gut aus, dafür ist der Steinpilzrisotto mit Petersilcreme und roh gehobelten Pilzen wirklich nobles, veganes Comfort-Food – sollte man sich um schlappe 25 Euro auch so erwarten dürfen.

Gegrillter Spitzpaprika wird geschält und mit fruchtig geschmorten Perlgraupen gefüllt, dazu gibt’s eine tolle Salsa und, nur nominell ein Kohlehydrat-Overkill, sehr luftiges Brokkoli-Erdäpfelpüree.

Brite brät

Allesesser dürfen sich zur Vorspeise auf eine souverän kombinierte – und ziemlich britisch anmutende – Ochsenschlepp-Backerlsulz mit Selchzunge freuen, dazu gibt es herausragend eingelegtes Essiggemüse sowie selbst gerührten Senf.

Nicht ganz so gelungen ist die Nuss vom Hirschen, die Emerson, für einen Briten durchaus untypisch, nur sehr zaghaft der Hitze überantwortet. Das arme Tier muss ganz ohne Röstaromen auskommen, auch das dazu gereichte Hirschgeschmorte ist überraschend sparsam gewürzt.

Hinterher will man französischen Käse. Was sich der oft und viel gelobte Elsässer Bernard Antony auch hier anzuliefern getraut, ist aber leider nur stumpf topfige, lieblos konditionierte Ware – zum wiederholten Male nicht satisfaktionsfähig. Auf französischen Märkten würde der vorgebliche Nobel-Affineur auf derart unreifer Ware sitzenbleiben.(Severin Corti, RONDO, 22.10.2021)

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