Jeremy Irvine (li.) und Jack Lowden in "Benediction", Terence Davies’ jüngstem Meisterwerk.

Foto: Viennale

Ein Mann steigt die Stiegen eines Einfamilienhauses hinauf. Tapeten und Läufer sind von einer gemusterten Düsternis, wie man sie nur schätzen kann, wenn die Großhirnrinde sie mit der eigenen Kindheit in Verbindung zu bringen vermag.

Oben angekommen, hält der Mann inne. Eine Stimme aus dem Off spricht von der Erinnerung an mütterliche Liebe, während die Kamera verlassene Wohn- und Essbereiche ins Bild rückt. Als älterer Mann geht der Protagonist die Stufen wieder hinab.

Abarbeiten an sich selbst

But why? ist der Titel dieses Trailers der heurigen Viennale. Dem Schöpfer dieses filmischen Gedichts, Terence Davies, der dafür auf die Hauptdarsteller seines aktuellen Spielfilms Benediction zurückgriff, widmet das Filmfestival eine umfassende Werkschau.

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Sie zeigt, wieso Davies mitunter als letzter großer Auteur des britischen Films gesehen wird. Denn wiewohl sein überschaubares Œuvre stilistisch wie zeitlich in verschiedene Phasen geteilt werden kann, so ist es doch unverkennbar das Werk eines Geistes, der sich unablässig an denselben Themen – und damit letztlich an seiner eigenen Person und Geschichte – abarbeitet.

1945 wurde Davies als jüngstes von zehn Kindern in eine katholische Liverpooler Familie geboren. Der Vater war ein gewalttätiger Säufer, sein Tod bedeutete daher eine Erleichterung für den damals siebenjährigen Terence.

Im Kino Hollywoods und in der Musik, die in seinen Filmen künftig stets von großer Bedeutung sein sollte, fand dieser seine große Leidenschaft, während ihm seine Homosexualität nach eigener Aussage immer verhasst sein wird.

Am Beginn seiner filmischen Karriere stehen explizit autobiografischen Arbeiten: The Terence Davies Trilogy (1976–1983), drei Kurzfilme über das Leben seines Alter Egos Robert Tucker, sowie die beiden Filmdramen Distant Voices,Still Lives (1988) und The Long Day Closes (1992).

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Besonders Distant Voices, Still Lives, ein filmisches Diptychon, das in den während einer Hochzeit und einer Taufe evozierten Erinnerungsfetzen zeigt, wie eine Familie im Liverpool der 1940er-Jahre unter dem psychopathischen Vater leidet und nach dessen Tod wieder zu atmen beginnen kann, gilt als Meisterwerk des britischen Films. Spröde, aber doch auch mit einem unverkennbaren Gespür für die in einem einzigen Kameraschwenk schlummernde cineastische Grandeur, bedeutete er nicht zuletzt auch die erste erinnerungswürdige Filmrolle von Pete Postlethwaite.

Nachdem Davies mit The Neon Bible (1995) und The House of Mirth (2000) zwei Romane vergleichsweise geradlinig auf die Leinwand gebracht hatte, wollten sich über mehrere Jahre keine weiteren Filme finanzieren lassen.

Mit der Wahl Liverpools zur Kulturhauptstadt Europas 2008 kam jedoch der Auftrag für einen Dokumentarfilm und damit die Wende. Dabei wird Of Time and the City, wie schon die Tagline "A love song and a eulogy" andeutet, vielleicht nicht ganz den Erwartungen der Auftraggeber entsprochen haben: Zum größten Teil aus Archivaufnahmen montiert und von Davies mit markanter Stimme kommentiert, ist es ein Abgesang auf die geliebte Heimatstadt, voll galliger Bemerkungen über Kirche, Königshaus, kommunalen Wohnbau und, Schockschwerenot, The Beatles.

Mit The Deep Blue Sea (2011) und Sunset Song (2015) folgten zwei weitere Literaturverfilmungen, die, wie zuvor schon The House of Mirth, Frauen in den Mittelpunkt stellten, die Gefangene ihrer Welt sind.

Auch über die Protagonisten seiner beiden jüngsten Arbeiten, die amerikanische Dichterin Emily Dickinson in A Quiet Passion (2016) und den britischen Dichter Siegfried Sassoon in Benediction (2021), lässt sich das Nämliche sagen.

Dickinson, deren Leben über weite Strecken von Krankheit und Einsamkeit geprägt war, lehnte sich wie der überzeugte Atheist Terence Davies gegen den Katholizismus auf. Sassoon, der als gefeierter Held der Schützengräben gegen die kriegstreibende Politik seiner Heimat öffentlich Stellung bezog, konnte als Teil der gesellschaftlichen Elite seine Homosexualität zwar ausleben, seinen wahren Platz aber dennoch nicht finden.

Kokett und glaubhaft

Wenn sie auch in unterschiedlichen Epochen zu Hause sind – an seinen Protagonisten ist doch deutlich zu erkennen, warum Davies, der ewige Beobachter, sie mit der Kamera umkreist und beleuchtet.

Der häufige Einsatz von Rückblenden als filmische Form der Erinnerung ist Zeugnis einer beständigen Beschäftigung mit der eigenen Herkunft eines Mannes, der sich gerne als zu alt für die moderne Welt stilisiert. Dass Terence Davies sowohl Rachel Weisz wie auch Agyness Deyn nicht gekannt haben will, als er sie für die Hauptrollen in The Deep Blue Sea beziehungsweise Sunset Song besetzt hat, ist so gleichermaßen kokett wie glaubhaft. (Dorian Waller, 16.10.2021)