"Wann immer ich kann, bin ich hier oben auf der Dachterrasse", sagt Goyo Cordobés. Der 56-jährige Familienvater hat ein Fernglas dabei. Er schaut hinüber zum sieben Kilometer entfernten Bergrücken. Dorthin, wo seit genau einem Monat auf der Kanareninsel La Palma der Vulkan Cumbre Vieja wütet.

Aus drei großen Öffnungen spuckt er unaufhörlich Lava, ein riesiger Berg mit Krater ist entstanden. Mehrere Lavaflüsse haben mittlerweile rund 2.000 Gebäude und etwas mehr als 800 Hektar unter sich begraben. Ganze bewaldete Berghänge, Ackerland und Dörfern sind verschwunden. La Palma ganz im Nordwesten der zu Spanien gehörenden Kanaren ist die grünste Insel der im Atlantik liegenden Gruppe. Vor dem Vulkanausbruch zog "La Isla Bonita" – die schöne Insel – vor allem Natur- und Wanderbegeisterte an.

Der Lärm, der vom Vulkan herüberkommt, ist unerträglich. Das Grollen und Röhren des Berges wird immer wieder von Explosionen unterbrochen. Mehrmals am Tag bebt die Erde. Von der Küste, dort, wo die Lava ins Meer fließt, steigen weiße Rauch- und Dampfschwaden auf. Heute hat zumindest der Wind gedreht. Die Luft ist sauberer als an anderen Tagen.

Ein Mitarbeiter des Katastrophendienstes blickt zum aktiven Vulkan.
Foto: AFP

Bei Verwandten untergekommen

"Die nördlichste Lavazunge ist nur noch rund 100 Meter von meinem Haus entfernt und 30 Meter von dem meiner Schwiegermutter", sagt Cordobés und schaut einmal mehr durchs Fernglas dorthin, wo er mit seiner Frau 30 Jahre lang gelebt hat und wo sein Sohn groß geworden ist. "Wir wurden am Tag des Ausbruchs, dem 19. September, in Sicherheit gebracht", fährt der Portier eines Privatclubs mit Restaurant und Freizeitanlagen fort. Seine Frau ist bei ihrer Schwester untergekommen, der Sohn mit Freundin bei einer Schwägerin und er und die ebenfalls evakuierte Schwiegermutter bei seiner Schwester Ana Cecilia und deren Mann Pedro Padrón. Auf deren Dachterrasse in Los Llanos steht er jetzt.

"Das Haus ist unser Lebenswerk", sagt Cordobés. "Wir haben es nach und nach selbst gebaut." 200 Quadratmeter Wohnfläche inmitten von 1.500 Quadratmeter Bananenplantage mit Schwimmbecken und einer Sitzecke mit gemauertem Grill nennt Cordobés sein Eigen – "noch", wie er immer wieder betont. "Acht Jahre Kredit stehen aus", sagt er dann. Immerhin würde das im Schadensfall die Versicherung übernehmen. "Aber mit dem, was sie mir dann noch auszahlen, werden wir wohl kaum neu anfangen können, zumal wir ja auch das Grundstück verlieren", fügt er mit gedrückter Stimme hinzu. Die Versicherungen orientieren sich an Listenpreisen, die – so fürchtet Cordobés – "wohl beträchtlich unter dem Marktwert liegen".

Das EU-Satellitenprojekt Copernicus veröffentlicht täglich Kartenmaterial zu der vulkanischen Aktivität.
Grafik: Copernicus

Die letzten Sachen

Als erste Freunde und Angehörige gleich nach dem Ausbruch ihr ganzes Hab und Gut verloren, konnte sich Cordobés nur schwer vorstellen, dass ihn dieses Schicksal auch ereilen könnte. "Jetzt muss ich mich wohl an diese Idee gewöhnen", sagt er. Manchmal kämen ihm die Tränen. "Doch als Familienvorstand musst du stark bleiben, den anderen Hoffnung machen. Das ist die Rolle, die dir zukommt."

Das letzte Mal war er vergangene Woche mit einem Passierschein drüben im Haus, "ein paar letzte Sachen holen". Auf den Fotos, die er mitgebracht hat, ist überall schwarze Asche zu sehen. Sie bedeckt den Boden, Pflanzen, Dächer, die Plane auf dem Schwimmbecken.

Schwager Pedro Padrón hat Cordobés bei der Evakuierung geholfen. "Ich habe zwei gesunde Arme und einen Pick-up-Truck", sagt er. Padrón unterstützt Angehörige und Freunde, ist morgens dort, wo Freiwillige die Hilfskräfte aus Armee, Feuerwehr und Polizei mit Frühstück versorgen. "Ich habe jetzt viel Zeit", erklärt der 53-jährige Bananenbauer. Seine Plantage befindet sich in der Sperrzone. Er kann nur noch mit Passierschein hin, und das höchstens zweimal die Woche, zum Bewässern.

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Viele Häuser sind noch immer durch den Lavastrom bedroht.
Foto: Reuters

Unterbrochene Bewässerung

Die Ländereien liegen auf der anderen Seite des Lavafeldes. Eine Viertelstunde war es mit dem Auto – vor dem Ausbruch. Jetzt sind es zwei Stunden auf kleinen Landstraßen über die Höhenlage der Insel, hinten um den Vulkan herum. "Ich habe 1,5 Hektar", erklärt Padrón. Dann benutzt auch er dieses Wort – "noch".

Zwar fließt derzeit die Lava nicht auf seine Grundstücke zu, dennoch hat er Probleme. Die Bewässerungssysteme sind unterbrochen. Tanklaster und mobile Entsalzungsanlagen sollen helfen. Wie lange das gutgeht, hängt nicht zuletzt davon ab, wie groß die Fläche wird, die so bewässert werden muss. Bananenstauden brauchen viel Wasser.

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In die Sperrzone dürfen die Menschen nur mit einem Passierschein.
Foto: AP

Katastrophe ohnegleichen

Mindestens ein Fünftel des Bananenanbaus auf La Palma ist mittlerweile direkt von der Lava oder indirekt durch Hitze, Asche oder Wasserprobleme vom Vulkanausbruch betroffen. Etwa 10.000 Familien sind direkt vom Bananenanbau abhängig. Zu Erntezeiten arbeiten auf den Plantagen mehr als 30 Prozent der Bevölkerung der umliegenden Gemeinden. Die Hauptproduktionszeit lief gerade an, als der Vulkan ausbrach. Die 150.000 Tonnen Bananen pro Jahr machen 41 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Produktion auf La Palma und ein Drittel aller kanarischen Bananen aus.

"Es ist eine Katastrophe ohnegleichen", sagt Landwirt Padrón, der dabei war, nach und nach auf ökologischen Anbau umzustellen. Ohne Bananen bleibt nur das Gehalt seiner Frau als Briefträgerin. "Wir brauche dringend Hilfe, damit die Insel nicht im Elend versinkt", fügt er hinzu. Er hofft auf Madrid, aber auch auf die Europäische Union, und dort vor allem auf Deutschland. "Es leben so viele Deutsche hier, da muss Deutschland doch einfach auch was tun", meint er.

Angst um Kinder

"Das Ganze ist eine Achterbahn der Gefühle. Jeden Tag neue und noch schlechtere Nachrichten, dramatische Veränderungen am Vulkan", sagt er. Die angespannte Stimmung wirke sich auch auf seinen kleinen Sohn aus. "Ich weiß nicht, wie der zehnjähriger Pedro das alles verkraften wird, erst die Pandemie, der Lockdown und jetzt das", sagt der Vater von drei Kindern, zwei außer Haus und der Jüngste aus seiner zweiten Beziehung. "Der Kleine schläft seit dem Vulkanausbruch sehr schlecht und dann auch nur bei uns im Bett. Ich hoffe, dass das keine dauerhaften Auswirkungen auf seine Persönlichkeit und auf seinen schulischen Werdegang hat", sagt Padrón.

Der psychologische Notdienst auf der Insel warnt seit Wochen vor den Folgen des Vulkanausbruchs, nicht nur für Kinder, sondern auch für die Erwachsenen. Naturereignisse, die für den Menschen nicht kontrollierbar seien, würden ganz besonders starke Verunsicherungen auslösen. Die Psychologen warnen vor posttraumatischem Stress, vor allem bei den Familien, die das ganze Hab und Gut und damit ihre Wurzeln verloren haben. Je länger der Ausbruch andauert, desto größer auch die psychologischen Spätfolgen der Katastrophe.

Das Magma aus der Tiefe

"Wie lange das noch geht, weiß keiner. Man muss mit Voraussagen sehr vorsichtig sein. Die Wissenschaft ist noch nicht so weit, dass wir Dauer und Stärke einer Eruption seriös voraussagen können. Wir sind in der Lage, einen Ausbruch ziemlich genau vorherzusagen, aber nicht, wann er vorbei ist", erklärt der Vulkanologe Peter Diethelm von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Er reist zu allen Vulkanausbrüchen, egal auf welchem Kontinent, um Eindrücke, Proben und Daten zu sammeln. Er wohnte zwei Wochen lang in El Paso, direkt an der Grenze zur Sperrzone. "Die Türen und Fenster vibrierten die ganze Zeit. Wir mussten Fetzen einklemmen, damit wir etwas Ruhe hatten, um ein wenig zu schlafen", erinnert er sich.

"Dass das Ganze schnell vorübergeht, wie viele am Anfang gehofft haben, dafür gibt es keine Anzeichen, ganz im Gegenteil", greift er dann das eigentliche Thema wieder auf. "Das Magma kommt aus sehr großer Tiefe – aus rund 30 Kilometern." Dies sei eines der Indizien, die dafür sprechen, dass es noch länger gehen wird, bis der Vulkan erlischt. Außerdem sei der Druck immens. Der Inselboden habe sich um rund 25 Zentimeter angehoben. Hinzu kämen die ständigen Erdbeben; insgesamt waren es es bisher 25.000. Es bestehe die Gefahr, dass immer neue Spalten aufgehen und Lava austritt. Damit könnte sich die von Lava betroffene Fläche wesentlich vergrößern.

"Chaos der Gefühle"

"Allerdings ist der Vulkan auf La Palma wenig explosiv. Diese sogenannten strombolianischen Vulkane verursachen große Sachschäden, aber meist keine Personenschäden", versucht er der Katastrophe ein positive Seite abzugewinnen. Es sei allerdings überraschend, wie viel Lava im Vergleich zu früheren Eruptionen bereits jetzt ausgetreten sei. Diethelm macht ein Rechenspiel: "Wenn wir sie in 40-Tonner-Lkws abtransportieren wollten, würde der Konvoi eineinhalbmal um die Erde reichen. Und wir können nicht abschätzen, wie groß das Reservoir dort unten noch ist", resümiert der Schweizer Vulkanologe.

Auch Cordobés ist klar, dass da noch viel auf die Inselbevölkerung zukommen kann. Er steht immer noch auf der Dachterrasse und schaut hinüber. "Ein Chaos der Gefühle" überkommt ihn dabei. "Wenn ich einmal für ein paar Minuten meine Sorgen verdrängen kann, dann betrachte ich einfach nur dieses großartige Naturschauspiel, das es trotz der Tragödie ist", sagt er mit einer Stimme, als schäme er sich dafür.

Doch diese Momente dauern nie lange. Dann holt ihn die bedrückende Realität wieder ein. "Manchmal hoffe ich auf ein Wunder, dann wieder denke ich: 'Und wenn das Haus verschont bleibt, aber rundum von Lava umgeben ist, dann können wir auch nicht hin.' Und dann ist mir plötzlich alles egal. Soll die Lava doch endlich alles mitnehmen, dann ist dieses Martyrium vorbei …", beschreibt er, wie es ihm geht, während sein Leben vor dem Fernglas an ihm vorüberzieht. (Reiner Wandler aus Madrid, 19.10.2021)