Die beiden Politikwissenschafter Rainer Bauböck und Gerd Valchars fordern in ihrem Gastkommentar eine Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes ein. Sie sprechen von einem bestehenden Demokratiedefizit.

Nein, diesem Anfang wohnt kein Zauber inne. Die alte Regierung unter dem neuen Kanzler wird vorläufig durch die geteilte Angst vor Neuwahlen am Leben erhalten. Wenn es zu diesen kommen sollte, wird wieder einmal berichtet werden, wie viele Menschen in Österreich leben, hier aber keine politische Stimme haben, weil sie keine Chance haben, die österreichische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Aber wie schon in der Vergangenheit wird das eine Randnotiz bleiben, solange keine Partei die Beseitigung dieses Demokratiedefizits zur Koalitionsbedingung macht.

Die Hürden, die Staatsbürgerschaft zu erlangen, sind hoch. Die Magistratsabteilung 35 steht in der Kritik.
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Das Programm der alten und neuen Koalitionsregierung widmet dem Reformstau bei den Einbürgerungen kein einziges Wort. Es gibt nun zumindest einige vorsichtige Signale auch in den "Altparteien" SPÖ und ÖVP. So forderte etwa Franz Fischler in der ORF-Sendung Im Zentrum am Sonntag eine neue Migrationspolitik der Konservativen, weil die bisherige einfach nicht funktioniert habe. Altkanzler Franz Vranitzky (SPÖ) weist im STANDARD-Interview auf junge Leute hin, die "Mitglieder der Gesellschaft" sind, weil sie "die gleichen Interessen und Lebensschwerpunkte haben" wie wir auch, aber nicht wählen dürfen.

Die außerordentlich hohen Hürden beim Zugang zur Staatsbürgerschaft erschweren die Integration von Migrantinnen und Migranten. Einbürgerung ist ein Integrationsmotor, sie macht Migrantinnen und Migranten zu rechtlich und politisch Gleichen, öffnet Möglichkeiten und schafft Chancen. Um den Motor zum Laufen zu bringen, braucht es einen fairen Zugang zur Staatsbürgerschaft und realistische Kriterien, die von jenen, die hier auf Dauer leben, auch erfüllt werden können.

Größerer Bildungserfolg

Studien zum Zusammenhang zwischen Einbürgerungsbedingungen und Integrationserfolg haben nachgewiesen, dass Einbürgerung die Arbeitsmarktintegration verbessert, wenn sie etwa vier bis fünf Jahre nach der Einwanderung erfolgt. Danach verpufft der Integrationseffekt weitgehend. Auch der Bildungserfolg ist bei den Kindern größer, die mit der Staatsbürgerschaft ihres Geburtslandes aufwachsen. Die langen Wartefristen, hohen Einkommenshürden und Gebühren, der Zwang zur Rücklegung der bisherigen Staatsbürgerschaft und das Fehlen eines bedingten ius soli, das heißt des automatischen Erwerbs der Staatsbürgerschaft bei der Geburt, wenn ein Elternteil bereits mehrere Jahre rechtmäßig im Land gelebt hat – all das behindert die soziale Integration von Migrantinnen und Migranten sowie ihren Kindern.

Exklusive Einbürgerungsregeln verschlechtern aber auch die Qualität der österreichischen Demokratie. Wenn 17 Prozent der Wohnbevölkerung im Wahlalter nicht wahlberechtigt sind, dann wird ein zentrales Merkmal der modernen Demokratie ausgehöhlt: ihre Repräsentativität. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Legitimität der gewählten Volksvertretung, sondern verzerrt auch die Wahrnehmung von Interessen durch diese. Aufgrund des massiven Ausschlusses von Zuwanderern unterscheiden sich die Wahlberechtigten zunehmend von der Wohnbevölkerung Österreichs. Erstere sind im Durchschnitt älter, einkommensstärker und leben häufiger auf dem Land als die Menschen im wahlfähigen Alter.

Schwächer gewichtet

Was heißt das konkret? Wien hat um rund 200.000 Einwohnerinnen und Einwohner (im Alter 16+) mehr als Niederösterreich, aber Niederösterreich hat mehr Wahlberechtigte und im Nationalrat mehr Mandate als Wien. Die Wahlberechtigten sind also überniederösterreichert und unterwienert, und sie sind außerdem überaltert. Die 60- bis 74-Jährigen und die Altersgruppe 75 plus sind unter den Wahlberechtigten im Vergleich zur Bevölkerung im Wahlalter um 1,5 beziehungsweise 1,6 Prozentpunkte überrepräsentiert, die 16- bis 29-Jährigen und die 30- bis 44-Jährigen hingegen um 1,4 beziehungsweise 2,6 Prozentpunkte unterrepräsentiert. Da sich Abgeordnete primär an den Interessen ihrer jeweiligen Wählergruppe orientieren, werden nicht nur die Interessen der Migrantinnen und Migranten wenig beachtet, sondern auch jene der jüngeren und städtischen Bevölkerung mit geringerem Einkommen schwächer gewichtet.

Beispiele gefällig? Der Klimabonus begünstigt die ländliche Bevölkerung gegenüber der städtischen, die viel zu geringe Bepreisung von Kohlendioxidausstoß erleichtert älteren Generationen die Beibehaltung ihrer Lebensgewohnheiten auf Kosten der Zukunft der jüngeren, das Steuerpaket entlastet mittlere Einkommen mehr als die untersten. Missstände in der für Einwanderung und Staatsbürgerschaft zuständigen Wiener MA 35 haben einerseits mit den schwer zu vollziehenden Gesetzen zu tun, andererseits aber wohl auch damit, dass die Klientinnen und Klienten dieses Amts kein Wahlrecht haben.

Im besonderen Interesse

Der Vorwurf an die Befürworterinnen und Befürworter einer Reform lautet, dass sie Wahlergebnisse beeinflussen wollen, indem sie neue Wählerinnen und Wähler schaffen. Das Argument geht jedoch ins Leere, wenn die Ausgeschlossenen aus demokratischer Sicht einen Anspruch auf Beteiligung haben. Der Ausschluss großer Teile der Wohnbevölkerung vom Wahlrecht dient im Grunde demselben Zweck wie die "Voter Suppression"-Strategie der US-Republikaner, das heißt die Senkung der Wahlbeteiligung von Minderheiten durch schikanöse Anforderungen für die Ausübung des Wahlrechts. Nur dass die Schikanen in Österreich eben in das Staatsbürgerschaftsgesetz eingebaut werden.

Eine Reform dieser Misere könnte an eine Bestimmung anknüpfen, die in diesem Gesetz bereits enthalten ist. Es gibt eine Option, bei der die meisten Hürden für Einbürgerungen aus dem Weg geräumt werden und auch nicht der Verzicht auf die bisherige Staatsbürgerschaft verlangt wird. Das sind die "Einbürgerungen im besonderen Interesse der Republik". Der neue Grundsatz sollte dagegen sein, dass die Öffnung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft im allgemeinen Interesse der Republik ist, um Demokratiequalität zu sichern und Integration zu fördern. (Rainer Bauböck, Gerd Valchars, 20.10.2021)