Julian Reichelt wurde wegen Vorwürfen des Machtmissbrauchs als "Bild"-Chefredakteur abgesetzt.

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Und wieder stehen wir vor dieser einen Frage. Ziemlich genau vier Jahre ist es her, dass die #MeToo-Bewegung für Aufsehen und mehr Sensibilisierung gesorgt hat. Doch hat sich nachhaltig etwas geändert? Werden Frauen im Job und auch überall sonst nicht mehr zu Sexobjekten degradiert? Oder werden sie nach wie vor von Männern als mögliche "Beute" verstanden, die offenbar kein Leben außerhalb ihres Jobs haben und sich völlig selbstverständlich das Recht herausnehmen, von ihnen unterstellten Frauen Sex einzufordern? Die ihre Macht missbrauchen und offenbar keine Ahnung haben, was in sexuellen Dingen "auf Augenhöhe" bedeuten könnte?

Man könnte bilanzieren: Diese Männer bekommen die Konsequenzen ihres Verhaltens zu spüren. Zumindest früher oder später. So wie aktuell der 41-jährige nunmehrige Ex-"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt, der nach ziemlich heftigen Vorwürfen seinen Job verlor. "Ich will deinen Körper spüren" – Nachrichten wie diese soll Reichelt des nächtens oder auch mitten aus Redaktionskonferenzen an junge Kolleginnen geschickt haben. Wir werden uns wohl künftig öfter daran oder auch an die Chatprotokolle rund um den ÖVP-Skandal erinnern, wenn ach so wichtige Männer während Sitzungen oder in Parlamenten geschäftig ins Handy tippseln.

Auch Reichelt soll Frauen aufgefordert haben, Nachrichtenverläufe zu löschen. Und es soll Stillschweigevereinbarungen gegeben haben. Seine Vorgehensweise erinnert sehr an den Hollywood-Mogul Harvey Weinstein, dessen Verhalten die Initialzündung der #MeToo-Bewegung war. Reichelt habe junge Kolleginnen hochgelobt, aufsteigen lassen, ihnen Verantwortung übertragen, um letztlich alles von ihnen zu wollen.

Spielt's das nicht mehr?

Aber: Der Springer-Verlag leistet sich solches Verhalten offenbar nicht mehr und hat Reichelt abgesetzt. Und Weinstein sitzt bekanntlich im Gefängnis. Ein anderes Beispiel, dass man mit sexualisierter Gewalt und Übergriffen nicht mehr so leicht durchkommt wie vielleicht noch vor zehn oder 20 Jahren, ist R. Kelly. Ihm wurde vorgeworfen, seinen Ruhm ausgenutzt zu haben, um Frauen und junge Mädchen in seine Nähe zu locken und sie sexuell auszubeuten. Und in Deutschland sorgten zuletzt Vorwürfe der sexuellen Nötigung gegen den Comedian Luke Mockridge nicht nur für Diskussionen, sondern auch für eine – anscheinend – selbstverordnete Auszeit und dafür, dass er sich professionelle Hilfe holte, um die Vorwürfe zu verstehen. Klar, all diese Fälle haben definitiv unterschiedliche Härtegrade, letztendlich geht es aber um dasselbe Thema: Wie ernsthaft oder nachlässig geht unsere Gesellschaft mit Vorwürfen zu sexualisierter Gewalt um?

Fest steht: Es bewegt sich etwas in die Richtung, dass dies definitiv ernster genommen wird. Social Media ist aber leider oft nicht nur ein wichtiger Kanal, in dem sich Betroffene gegenseitig stärken können, sondern sorgt auch für undifferenzierte Debatten, die uns kaum weiterbringen und schnell einmal die Meinung verbreiten, man könnte einen Mann mit ein paar Hashtags zerstören. Letztlich ist es aber in all den genannten Fällen so, dass es absolut nicht "nur" um eine Frau geht, um einen Vorwurf, sondern die Vorwürfe sind vielfältig. Diese Fälle eint auch, dass das Umfeld Bescheid wusste – und lange stillhielt. Das ist ein Hinweis, dass sich nur im Bereich von Millimetern etwas bewegt. Es muss schon ein sehr dichtes, von unterschiedlichen Menschen beobachtetes und letztlich auch ausgesprochenes Unrecht sein, damit zu ernsthaften Konsequenzen kommt.

Und noch etwas erschüttert den Glauben an Fortschritt: Wenn Menschen, die die gut belegten Vorwürfe kennen, Vorwürfe, die sogar einen Vorstand dazu bewegen, den Chefredakteur rauszuschmeißen, öffentlich Lob- und Dankeshymnen hinterherheulen.

Das ist kaum zu ertragen. Laut einer Umfrage wird in Deutschland jede vierte Frau nach ihren eigenen Angaben am Arbeitsplatz sexuell belästigt. 19 Prozent erlebten – teils zusätzlich – sexistisches Verhalten im Job. Und nur 44 Prozent wehrten sich bei den Vorgesetzten und den Tätern selbst dagegen. In Österreich zeigt der Arbeitsklimaindex der Arbeiterkammer, dass mehr als jede zweite Frau hat schon einmal sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt hat. Dass 38 Prozent der Arbeitnehmerinnen mit abfälligen Bemerkungen konfrontiert waren, 31 Prozent angestarrt oder gemustert wurden. Und zwölf Prozent erlitten körperliche Übergriffe. Zahllose Frauen hadern also damit, wie sie mit sexueller Belästigung im Job umgehen sollen, ohne Nachteile zu erleiden.

So, und nun sehen diese Frauen, wie Kolleg*innen trotz der zahlreichen Recherchen und Aussagen von Betroffenen den Ex-Chef noch im Nachhinein in den Himmel loben. Könnten sich die Reichelt-Fans ihre Lobeshymnen nicht einfach sparen? Einfach aus Respekt vor den Fakten und den vielen bekannten Fällen von sexualisierten Übergriffen und Machmissbrauch den Mund halten?

Es fühlt sich letztlich also nach einem Nullsummenspiel an. Ja, Reichelt konnte aufgrund der erdrückenden Vorwürfe nicht mehr geduldet werden. Das ist ein Fortschritt. Das, was allerdings im Zuge dessen dann oft öffentlich gesagt wird, die Verniedlichungen und Ehrerbietungen, macht wieder verdammt viel kaputt. (Beate Hausbichler, 20.10.2021)