Polnische Soldaten und Grenzbeamte warten an der Grenze zu Belarus auf Flüchtlinge und Migranten.

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Die Zahlen schießen wieder in die Höhe. Mehr und mehr Flüchtlinge und Migranten erreichen auf verschiedenen Routen die EU: über die Balkanroute, über das zentrale Mittelmeer, und dank des dortigen Machthabers Alexander Lukaschenko neuerdings auch über Belarus. Laut der EU-Asylbehörde Easo wurden etwa im August 40 Prozent mehr Asylanträge gestellt als zur gleichen Zeit im Vorjahr.

Gleichzeitig häufen sich die Berichte über rechtswidriges Vorgehen von Beamten an den EU-Außengrenzen. Grenzbehörden in Ungarn, Kroatien, Griechenland und nun auch in Polen schieben Menschen gewaltsam zurück über die Grenze, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen – sogenannte Pushbacks, die gegen internationales und EU-Recht verstoßen.

"Verbindliche Solidarität"

Eine gemeinsame Strategie der EU, um all die Probleme zu lösen, ist nicht vorhanden, daran hat auch der EU-Gipfel vergangene Woche nicht viel geändert. Dabei hat die EU-Kommission bereits vor mehr als einem Jahr ein neues Migrations- und Asylpaket präsentiert. Enthalten sind darin unter anderem effizientere Grenzverfahren und Rückführungen, besserer Grenzschutz, verstärkte Kooperation mit Drittstaaten und das neue Prinzip der "verbindlichen Solidarität". Eine Umsetzung dieses Pakets ist jedoch weit entfernt, da sich die EU-Staaten uneinig sind. Wie kommt man nun aus dieser Sackgasse?

Hört man sich bei Experten um, so halten diese eine Einigung beim EU-Paket für sehr unwahrscheinlich. "Die Mitgliedsstaaten haben fundamental unterschiedliche Auffassungen in Sachen Flucht und Migration. Die einen wollen Unabhängigkeit bei diesem Thema, die anderen gesamteuropäische Ansätze", sagt der Politologe Florian Trauner von der Freien Universität Brüssel. Deshalb, so der Österreicher, wirke es so, als gehe nichts weiter, und deshalb würden EU-Länder mit Außengrenze zweifelhafte Praktiken anwenden, während die EU-Kommission dabei beide Augen zudrücke.

"Brutalität und Abschreckung"

Der Migrationsexperte Gerald Knaus, der als Erfinder des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals gilt, sieht das ähnlich. "An den Außengrenzen werden offen und strategisch EU-Gesetze gebrochen, weil viele Regierungen zu dem Schluss gekommen sind: Das Einzige, was ihnen einfällt, um irreguläre Migration zu kontrollieren, ist, diese Gesetze zu missachten und Menschen durch Brutalität und Abschreckung daran zu hindern, über die Grenze zu kommen." Viele EU-Länder, so Knaus, seien mittlerweile der Meinung, "dass sich die EU ihre Asylgesetze mitsamt individuellen Verfahren gar nicht leisten könne, wenn sie Kontrolle haben will".

Wenn überhaupt, sagt Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, könnten die EU-Staaten das Migrations- und Asylpaket aufdröseln und einzelne Teile verabschieden, wie es zum Teil bereits mit dem Projekt einer EU-Asylagentur geschehen ist. "Das wäre keine Lösung, aber man könnte zumindest behaupten, man kommt voran."

Die Illusion der vollkommenen Kontrolle

Apropos Lösung: Gibt es so etwas überhaupt, den sprichwörtlichen Heiligen Gral, um Flucht und Migration in die EU auf Dauer zu beenden oder zumindest zu kontrollieren? "Es kann dabei nur relative Verbesserungen geben. Diese Vorstellung, dass man vollständig steuern kann, wer kommt, wer bleibt und wer geht, ist eine Illusion", sagt Bossong.

Was diese relativen Verbesserungen betrifft, hält Bossong es für möglich, dass bestimmte Maßnahmen weiterhin nur mit bestimmten EU-Staaten in einer sogenannten Koalition der Willigen durchgeführt werden. So geschehen zum Beispiel im Mai, als mehrere Tausend Ankünfte binnen 24 Stunden auf Lampedusa gezählt wurden und sich eine Handvoll Staaten bereiterklärten, einige dieser Menschen aufzunehmen.

Partner gesucht

Gerald Knaus hat noch einen anderen Vorschlag, um das rechtswidrige Vorgehen an den EU-Außengrenzen zu beenden. "Humane Kontrolle ist möglich, aber dafür benötigen wir Partner." Dabei nimmt er das zentrale Mittelmeer als Beispiel: "Wenn es ein Flüchtlingsboot nach Europa schafft, bleiben die Menschen dort ein paar Jahre. Oder sie werden nach Libyen zurückgebracht in Lager, wo sie misshandelt werden. Hier bräuchten wir eine dritte Option: Wir bringen die Leute zurück in ein Land, wo ihre Menschenwürde nicht verletzt wird. Gleichzeitig sorgen wir dafür, dass sich nicht mehr so viele Menschen auf den Weg machen, weil sie wissen, dass sie nicht nach Europa kommen."

Als möglichen Kooperationspartner nennt Knaus Tunesien. "Natürlich müsste man etwas politisch Attraktives anbieten, zum Beispiel visafreies Reisen in die EU. Das wird derzeit keinem afrikanischen Land in Aussicht gestellt und wäre ein enormer Anreiz."

Quadratur des Kreises

Egal wie es weitergeht, so Knaus, ein EU-weites Vorgehen wird keine Fortschritte bringen. "Die EU-Kommission versucht die Quadratur des Kreises, wenn sie versucht, bei diesem Thema 27 Staaten für einen Konsens zu gewinnen." Auch er setzt auf eine Koalition der Willigen, die ein Konzept entwickelt und dann vorangeht. "Das ist die einzige Chance. Die Alternative ist der Status quo, und der wird immer schlimmer. Geht es so weiter, werden wir in zwei Jahren keine Genfer Flüchtlingskonvention mehr haben."

Solange es zu keinen Verbesserungen kommt, sagt Florian Trauner, "wird es weiterhin den Wettbewerb der restriktiven Maßnahmen geben, um die Menschen abzuschrecken". Umso absurder erscheint dabei die Rolle von Frontex, der EU-Grenzschutzagentur, die in den vergangenen Jahren mit dem Segen aller EU-Länder massiv aufgerüstet wurde in dem Glauben, sie könne die EU-Außengrenzen schützen. Ein Irrglaube, wie sich nun herausstellt.

Teuer und nicht gebraucht

"Man hat sich nie gefragt, was Frontex eigentlich an der Grenze tun kann", sagt Knaus, "denn wenn es sich an EU-Recht hält, verhindert es keine irreguläre Migration, sondern kann nur die Ankommenden registrieren, die Asyl beantragen." Und da viele EU-Außenstaaten mittlerweile EU-Recht brechen, kann Frontex nicht mitmachen, da es als EU-Behörde eben noch stärker an EU-Recht gebunden ist. "In Kroatien sind sie nicht mehr, in Ungarn nicht mehr, in Polen, wo sie ihr Hauptquartier haben, sind sie an der Grenze gar nicht erwünscht", sagt Knaus. Die Staaten, sagt Bossong, "sind mehr und mehr daran interessiert, das im Dunkeln zu machen und die EU nicht zu beteiligen". (Kim Son Hoang, 25.10.2021)