Zwei Monate ist es her, dass eintrat, was der nun zurückgetretene Afghanistan-Beauftragte der USA, Zalmay Khalilzad, in Interviews noch kurz zuvor als "unrealistisches Szenario" bezeichnet hatte: Die Taliban übernahmen die Kontrolle in Kabul. Auf das Entsetzen über die Bilder von flüchtenden Menschen und Terror am Flughafen und die Ungläubigkeit angesichts der hilflosen US- und Nato-Truppen folgte einerseits großes Mitleid mit den besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen, vor allem den Frauen – und andererseits eine Art Abspaltung.

Es ist, als ob Afghanistan auf einem anderen Planeten liegen würde. Wer heute in Europa, und vor allem in Österreich, das Wort Afghanistan in den Mund nimmt, tut es meist im Zusammenhang mit befürchteten neuen Migrationsbewegungen.

In Moskau traf sich am Mittwoch die Afghanistan-Troika zu einer Konferenz mit Beteiligung der Taliban.
Foto: imago images/SNA

Bereits im August wurde von der öffentlichen Meinung fast völlig ausgeblendet, dass die Rückkehr der Taliban an die Macht auch ein Ergebnis westlicher Politik war, des Versagens in und des Rückzugs aus Afghanistan mangels Perspektiven. Zuvor führten die USA fast drei Jahre lang Verhandlungen mit den Taliban – die sich im Sommer 2021 dann jedoch nicht ans amerikanische Drehbuch hielten. Aber dessen ungeachtet redet Washington natürlich noch immer mit ihnen.

Das tun auch andere Akteure, die das Heft in die Hand zu nehmen versuchen. In Moskau traf sich am Mittwoch die Afghanistan-Troika zu einer Konferenz mit Beteiligung der Taliban. Im März war sie noch als "Troika plus" aufgetreten: Russland, China, Pakistan – und die USA. Washington entschuldigte sich diesmal mit "logistischen" Problemen, lobte jedoch das "effektive, konstruktive" Troika-Format.

Drohende humanitäre Katastrophe

Tatsächlich ringen die USA um eine Position, die ihnen erlaubt, mit den Taliban im Dialog zu bleiben, ohne deren Herrschaft eine Legitimität zu verleihen, die sie – angesichts des Ausschlusses aller anderen Gruppierungen sowie der schweren Menschenrechtsverletzungen – nicht verdienen. Und es gilt eine drohende humanitäre Katastrophe in Afghanistan zu verhindern, die die ganze Region destabilisieren könnte.

Russland hat zwar auch keine Antworten auf all diese Fragen, nützt jedoch wieder einmal das Vakuum, das Abwesenheit und Schwäche der USA schaffen. Moskau muss auch weniger Rücksicht auf die öffentliche Meinung nehmen, die sich im Westen in Empörung äußert, wenn man die anstehenden Probleme überhaupt anspricht. Russland und China können das tun, was hier – noch? – undenkbar ist: den Taliban eine Anerkennung in Aussicht stellen, wenn sie bestimmte Forderungen erfüllen.

Aus westlicher Warte ist das ein Tabu, ein Verrat an vielen Afghanen und Afghaninnen. Die Tatsachen sollte man dennoch zur Kenntnis nehmen und diskutieren: Durch die mangelnde Stabilität könnte sich in Afghanistan genau wieder jener Freiraum für den internationalen Jihadismus öffnen, den die USA mit dem nach 9/11 begonnenen "war on terror" schließen wollten. Die Anschläge des "Islamischen Staats" in Afghanistan häufen sich. Die Taliban, die sich einerseits selbst teilweise durch Drogen finanziert haben, haben andererseits selbst keine Kontrolle über Drogen- und Finanzströme. Von ihnen profitieren nicht nur die üblichen kriminellen, sondern immer auch terroristische Netzwerke. Nicht nur die Taliban: Auch wir haben ein Problem. (Gudrun Harrer, 21.10.2021)