Bildungswissenschafter Stefan Hopmann findet einiges am österreichischen Bildungssystem toll, das berufsbildende Schulwesen etwa sei "genial".

Foto: Uni Wien

Er beschäftigte sich mehr als 40 Jahre wissenschaftlich mit Bildung als Praxis, als Forschungsthema und als Politikfeld. Er lehrte und forschte in 15 Ländern, darunter ein Jahrzehnt in Norwegen, bis er 2005 an die Uni Wien berufen wurde. Mitte Oktober wurde Stefan Hopmann als Professor am Institut für Bildungswissenschaft zwar offiziell pensioniert, tatsächlich ist der gebürtige Deutsche weiter in internationalen Forschungsprojekten aktiv. Hier erklärt er, was am österreichischen Bildungssystem "toll" ist und wo es gerade dabei ist, viel zu verspielen.

STANDARD: In einem Ihrer Seminare über historische Grundlagen der Bildungsforschung geht es um die Frage: Wozu Schule? Diese Frage hat sich in der Corona-Pandemie für tausende Eltern offenbar auf neue Weise gestellt. 7.515 Kinder im Pflichtschulalter wurden heuer von der Schule ab- und zum "häuslichen Unterricht" angemeldet. Was antworten Sie diesen Eltern, wenn die zu Ihnen sagen würden: Wozu Schule? Mach ich mir selber!

Hopmann: Historisch kann man zwei Grundfunktionen von Schule unterscheiden: qualifizieren und kultivieren. Beim Qualifizieren geht es einfach nur darum, Wissen zu vermitteln und anzueignen. Beim Kultivieren geht es darum, miteinander umgehen zu lernen, die gemeinsame Arbeit an Sachverhalten zu lernen usw. Die, die ihre Kinder abmelden, sind fast immer in der Lage, die Qualifizierungsseite sicherzustellen, also die bloße Vermittlung des Unterrichtsstoffs. Aber was sie nicht vermitteln können, ist die gemeinsame Arbeit an Sachen. Dazu muss man wissen, dass Schule von vornherein nicht konzipiert war als Wissensverbreitungsinstrument.

STANDARD: Sondern?

Hopmann: Die Primärfunktion war die Bildung künftiger Bürger. Das hatte eine ganz klare Priorität. Der Zweck der öffentlichen Schule ist, sich miteinander über die Welt zu verständigen. Das ist das, was sie gut kann. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten haben wir aber die andere Funktion – möglichst viel Wissen in möglichst kurzer Zeit in möglichst viele Köpfe zu stopfen – in den Vordergrund gestellt und die Primärfunktion zum Teil beschädigt.

STANDARD: Wie interpretieren Sie diese Verdreifachung der Schulabmeldungen? Allgemeines Krisensymptom oder vorübergehende Pandemiefolge?

Hopmann: Ich halte das für eine kurzfristige Reaktion, die aber eine langfristige Entwicklung anzeigt. Das ist die Spitze eines Eisbergs, die hat bei manchen Eltern sicher auch was mit der Erfahrung des chaotischen Corona-Jahrs in der Schule zu tun, aber wir haben grundsätzlich ein schwindendes Vertrauen in die Schule. Ein Drittel der Schüler braucht bezahlte Nachhilfe, über die Hälfte aller Kinder kriegt ständig irgendeine außerschulische Hilfe. Das spricht nicht dafür, dass die Schule leisten kann, was sie leisten soll. Die Nachhilfeindustrie gehört weltweit zu den am schnellsten wachsenden Sektoren. Mittlerweile haben mehrere Länder Maßnahmen ergriffen, um die Nachhilfenachfrage einzudämmen. Da stecken massive wirtschaftliche Interessen dahinter. Der Privatschulsektor kann sich vor Nachfrage nicht retten. Wir erleben schrittweise und verzögert gegenüber anderen Ländern, weil wir ein relativ hohes Niveau haben, eine Fragmentierung des Schulsystems. Die, die können, scheiden früher oder später aus dem öffentlichen System aus und schauen sich nach einer anderen Lösung um – oder wenn sie in der öffentlichen Schule bleiben, dann mit Speziallösungen wie bilingual oder Musik etc. Was immer es ist, damit das eigene Kind nicht mit den Schmuddelkindern spielen muss. Das macht sich jetzt auch bei uns langsam breit.

STANDARD: Was muss oder kann die Politik dagegen tun?

Hopmann: Wir wissen aus der Forschung, dass Standardisierung, Kompetenzorientierung, all das, was in den letzten 20, 30 Jahren betrieben wird, soziale Segregation und schulische Leistungsunterschiede massiv befördert. Was wir gerade machen, ist: Wir zerlegen die entscheidende Grundlage der Gesellschaft, nämlich dass sich die Beteiligten miteinander verständigen können. Was die Politik machen müsste, haben wir auch in der Corona-Krise gelernt: Noch nie hatten Menschen so viel Naturwissenschafts- und Sozialkunde-Unterricht wie heute, und trotzdem kommen wir mit unseren Botschaften, was Corona betrifft, bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung nicht zurecht, weil die zum Beispiel wissenschaftliches Wissen nicht von anderem Wissen unterscheiden können oder nicht wissen, wie man Quellen überprüft. Nichts dergleichen. Wir müssten also die Idee wieder erneuern, dass Schule nicht dazu da ist, möglichst viel Wissen zu verbreiten – das ändert sich ohnehin ständig –, sondern zu lernen, sich mit anderen über Welt zu verständigen.

STANDARD: Wenn Sie sagen, Schule ist dazu da, dass wir uns miteinander über die Welt verständigen – wäre die gemeinsame Ganztagsschule für alle dann die politisch richtige Antwort?

Hopmann: Nein. Oberflächenstrukturen regulieren das nicht. Die Deutschen haben Milliarden im Ganztagsschulbetrieb versenkt ohne substanziell messbare Effekte, weder für Exzellenz noch Chancengleichheit. Gesamtschulsysteme sind nicht unbedingt weniger segregiert, sie entwickeln andere Formen der sozialen Segregation. Wenn Sie jetzt mit Kindern nach Oslo oder Helsinki ziehen würden, dann würde der Makler Sie zuerst fragen, wie wichtig Ihnen eine gute Schule ist, und Ihnen dann erzählen, in welche etwas teureren Stadtbezirke Sie doch bitte ziehen sollen, um das zu gewährleisten. Es kommt auf das Kerngeschäft an, auf das, was im Unterricht passiert. Und das kann genauso gut in einer Halbtagsschule passieren. Es kommt darauf an: Was machen wir, wenn wir in der Schule sind? Das ist die zentrale Frage, nicht, ob halbtags oder ganztags, ob gesamt oder gegliedert.

STANDARD: Welche bildungspolitische Reform war aus Ihrer Sicht die wichtigste in den letzten 50 Jahren?

Hopmann: Nach wie vor Kreisky. Seine Bildungsreform ging aber interessanterweise auf eine Idee zurück, die ursprünglich ein Kreis junger ÖVPler ausgeheckt hatte, das wird oft übersehen, dass Busek und Co im Hintergrund Ideengeber waren. Ich meine vor allem die Aufwertung der beruflichen Bildung. Bei uns werden zwei Drittel aller Hochschulzugangsberechtigungen nicht über die AHS-Schiene erworben, sondern über die diversen berufsbildenden Zugänge. Das ist einzigartig in Europa und war wirklich eine geniale Maßnahme, weil dies sehr vielen jungen Menschen, vor allem im ländlichen Raum, aber auch bestimmten Gruppen in der Stadt, überhaupt eine Chance eröffnet hat, bis zur Hochschulzugangsberechtigung zu kommen. Ich halte das nach wie vor für eine der genialsten Bildungsreformen überhaupt, weil sie erkannt hat: Es kommt nicht darauf an, die Oberflächenstrukturen umzumodeln, es reicht, wenn ich am Übergang und an den Berechtigungen schraube, und wenn ich das gründlich mache, dann mache ich Bildungslaufbahnen möglich, die sonst nicht möglich wären. Was mir allerdings bis heute wehtut, ist, dass ich, egal, wie schlecht meine Noten sind, aus der Unterstufe der AHS in die Oberstufe aufsteigen darf, aber nicht aus der Mittelschule, wofür es überhaupt keinen Grund gibt.

STANDARD: Spricht das doch für eine gemeinsame Schule, weil es zeigt, dass das differenzierte System doch nicht so durchlässig ist, wie behauptet wird?

Hopmann: Das ist überhaupt nicht durchlässig. Die AHS ist die Gesamtschule des Bürgertums. War’s schon immer und wird es auch bleiben. Nur: Zu glauben, so ein Effekt verschwindet, wenn ich Gesamtschule drüberschreibe, ist falsch, weil, wie gesagt, Gesamtschulsysteme andere Formen der Segregation entwickeln. Man muss die Fluchtgründe beseitigen, den Leuten die Angst nehmen, dass ihre Kinder darunter leiden werden, wenn sie in diese Schule gehen. Das ist das, was die Mittelschulen gerade durchmachen. Nach der ziemlich vermurksten Mittelschulreform ist die Fluchtbewegung hinüber ins Gymnasium ja noch viel stärker geworden. Wer kann, flüchtet. Das ist das zentrale Problem, und davon müssen wir weg, wenn wir nicht in einer Gesellschaft enden wollen, wo jeder nur noch mit seinesgleichen reden kann.

STANDARD: Welche bildungspolitische Reform würden Sie aus Wissenschaftersicht rückgängig machen?

Hopmann: Dass Sitzenbleiben Unsinn ist, sollte man eigentlich nicht mehr diskutieren müssen. Klassenwiederholungen machen nur in eingeschränkten individuellen Fällen Sinn, etwa nach längerer Krankheit. Es gibt eine Reihe an Reformen, die komplett überflüssig sind. Wie weitreichend die Zentralmatura ist, das ist Quatsch. Bildungsstandards als bloße Erhebung, von mir aus. Standards als Steuerungsinstrument – offensichtlich untauglich. Das ist so, als würde ich Auto fahren alleine anhand der Geodaten ohne Rücksicht auf den jeweiligen Verkehr. Ich habe ja nur einen kleinen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, den das abbildet, was mit der Gesamtleistungsfähigkeit von Schulen nichts zu tun hat.

STANDARD: Wenn die Zentralmatura, so, wie sie gestaltet ist, Quatsch ist, wie Sie sagen – sollte man sie dann hierzulande wieder abschaffen?

Hopmann: Natürlich, die war von vornherein, so wie sie in Österreich eingeführt wurde, in der Form Unsinn und eine komplette Fehlkonstruktion, weil man sie so konstruiert hat, dass alles auf eine Karte gesetzt wurde, während andere Länder gesagt haben: Na ja, wir können einen Teil zentral testen, weil das nicht uninteressant wäre, aber entscheidende Teile bleiben auf der Schulebene, denn wichtig für solche Prüfungen ist ja, zu messen, was man tatsächlich an der jeweiligen Schule lernen konnte. Und es endet ja auch jedes Mal damit, dass die Lehrer beschuldigt werden, sie hätten nicht richtig unterrichtet. Aber es gibt keine Möglichkeit, Unterricht zentral zu standardisieren, ohne ihn zu banalisieren oder im Kern zu zerstören. Deshalb wäre meine einfachste Empfehlung: Hört doch einfach auf damit! Begnügt euch damit, was Lehrpläne mal waren: eine Auswahl zulässiger Möglichkeiten, ohne die Erwartung, das alles abzuarbeiten, und überlasst Art und Umfang der Behandlung der einzelnen Materien den Schulen, die gewährleisten können, dass das tatsächlich ein gemeinschaftlicher Erarbeitungsprozess ist, der niemanden zurücklässt.

STANDARD: Und was läuft wirklich gut im österreichischen Schulsystem? Mitunter entsteht ja der Eindruck, alles ist schrecklich und katastrophal.

Hopmann: Ganz und gar nicht! Das ist ja das Schöne an Österreich. Ich zitiere mich selbst: Österreich funktioniert trotz und nicht wegen. Das gilt übrigens nicht nur für den Bildungsbereich. Österreich funktioniert, weil: Passt schon. Oder: Wir schauen mal. Was ist das Tolle am österreichischen Bildungssystem, das ich gar nicht für so schlecht halte, das im Großen und Ganzen ja auch liefert, was die Wirtschaft und die Gesellschaft brauchen, nur halt eben zusehends innerlich auseinandergerissen wird durch eine verantwortungslose Politik? Wir gehören im Großen und Ganzen weltweit zu den Ländern mit den besten Bilanzen, was den Übergang von Schule zu Beruf betrifft oder endgültige Dropouts, also Leute, die komplett unbeschult bleiben. Unser System von hundert verschiedenen Wegen nach oben namens berufliche Bildung funktioniert großartig, weil es so viele Möglichkeiten schafft – und Kinder sind halt sehr unterschiedlich.

STANDARD: Und wie hat sich das System in der Coronap-Pandemie bewährt?

Hopmann: Wir haben die Corona-Krise im Großen und Ganzen wegen unserer Lehrkräfte und Schulleitungen überstanden, die es trotz eines völlig chaotischen Krisenmanagements des Ministeriums in den allermeisten Fällen geschafft haben, ihre Schäfchen zusammenzuhalten und das Schuljahr einigermaßen zu retten. Die haben ja bis zum Umfallen geackert. Und, nicht zu vergessen: die Kindergärten! Die arbeiten ja eigentlich unter völlig unzumutbaren Überlastungsbedingungen. Die durften ja auch während der Pandemie aus einsehbaren Gründen nie richtig zumachen ... Was die Kolleginnen und die vereinzelten Kollegen da geleistet haben, das bewundere ich maßlos. Die Stärke in vielen Bereichen bei uns ist, dass die Leute bereit sind, die Ärmel aufzukrempeln und zu schauen, was geht, egal, was von oben kommt, und das dann auch einfach machen, solange sich niemand einmischt. Dieser ganze Unsinn mit den Deutschförderklassen wäre viel, viel schlimmer, wenn die Schulen das nicht stillschweigend umgehen würden. Da läuft so viel Kluges ab, das finde ich das Tolle, und das ermutigt mich auch immer wieder, zu sagen: Nö, wir haben keine Katastrophe, aber wir sind an einem Punkt, wo wir riskieren, diese Dynamik, die davon lebt, dass man das Recht hat, vor Ort auszuprobieren, was das Richtige ist, kaputtzumachen durch eine völlige überzogene Vorstellung von Steuerbarkeit und Kontrolle. (Lisa Nimmervoll, 26.10.2021)