Die jungen Mädchen in Yuri Ancaranis "Atlantide" sind vor allem Zuschauerinnen und Beisitzerinnen – oder sie werden beim ekstatischen Sex auf dem Bug imaginiert.

Foto: Viennale

Sie heißen Emma, Marta und Maila, und sie sind superschnell. Auf Sant’Erasmo, einer Insel in der Lagune von Venedig, schrauben männliche Jugendliche den lieben langen Sommertag an ihren Speedbooten, den Barchinos, herum. Die übrige Zeit sind sie damit auf den venezianischen Gewässern unterwegs, liefern sich Rennen mit den Booten der Polizei und benutzen das Fahrzeug zum Abhängen, Selfies-Machen, Koksen und Knutschen.

Daniele, ein junger Mann mit kantigen Gesichtszügen und Nackentattoo, schaut sehnsüchtig auf die in einen Holzpfahl geritzte Bestenliste. Sein ganzes Begehren richtet sich darauf, irgendwann einmal seine Initialen darauf zu sehen. Auf 85 Stundenkilometer bringen es die schnellsten der gefährlich hochfrisierten Maschinen. Die Maila, benannt nach seiner etwas phlegmatischen Freundin, kommt da nicht annähernd heran.

The Upcoming

Der Blick des italienischen Filmemachers und Videokünstlers Yuri Ancarani gilt dem Treiben einer männlich geprägten Jugendkultur, das sich bei Venedig-Besuchen allenfalls aus weiter Ferne beobachten lässt. Sant’Erasmo, die größte Insel in der Lagune, ist eigentlich für ihre zarten Artischocken bekannt.

Am Anfang sieht man Daniele auch etwas lustlos auf einem Acker mit Stauden herumschaufeln, doch seine Augen wandern immer wieder wie magnetisch zum Wasser. Ein alter Bauer schüttelt den Kopf: "Ihr werdet euch noch umbringen mit diesen Speedbooten."

Es ist nicht das erste Mal, das sich Ancarani, der bisher vor allem im Kunstfeld bekannt ist (er stellte unter anderem auf der Venedig-Biennale und im Centre Pompidou aus), den Zeichen, Posen und Fantasien hermetischer Männerwelten widmet.

Daniele gehört nicht richtig dazu

Ähnlich wie bei Roberto Minervini entstehen seine Filme aus dokumentarischen Beobachtungen – auch wenn er dann etwas ganz anderes, weitaus Überformteres daraus macht. Über vier Jahre hat er die Geschichte entwickelt, ein Drehbuch gab es zunächst nicht, die Dialoge sind der Alltagssprache der Jugendlichen entnommen. Atlantide folgt dem jugendlichen Rudel bei seinen Touren durch die Lagunen, das Gewummer der Trap Music ist dabei allgegenwärtig und beschallt auch die Franziskanermönche hinter den Klostermauern beim Unkrautzupfen.

Der wortkarge Daniele steht ein bisschen abseits der Gruppe, gehört nicht so richtig dazu und fischt auch mal leere Plastikflaschen aus dem Wasser. Ein wenig kultiviert er auch das Pathos des einsamen Mannes. "Ich bin niemandes Sklave", sagt er zu seiner Freundin. Sie pflichtet ihm bei. Die jungen Mädchen sind im Film vor allem Zuschauerinnen und Beisitzerinnen – oder werden beim ekstatischen Sex auf dem Bug imaginiert.

Atlantide gibt dem Lebensgefühl der jungen Männer allen Raum, der Fokus bleibt dabei ganz auf ihrer Obsession – das familiäre Umfeld wie auch Fragen nach dem Lebensunterhalt werden ausgeblendet.

Psychedelischer Noir

Im stilistischen Überschuss findet der Film eine Sprache für die Fantasiewelten der Jungs und das viele Testosteron. Wenn ihre rasenden Boote sprudelnde Wasserfontänen hinter sich herziehen, kokettieren die Bilder mit dem hedonistischen Flair von Miami Vice. Als Daniele einen Propeller klaut und damit endgültig den Respekt der Gruppe verliert, wirft Atlantide die letzten Reste des dokumentarischen Realismus über Bord, um sich den Spuren von Gewalt und traumähnlichen Atmosphären hinzugeben.

Nach einer Passage im rötlichen Abendlicht übernimmt die Nacht – und der psychedelische Noir. Im farbigen Licht der Bootscheinwerfer verwandelt sich Venedig in eine mythische Traumwelt. Vielleicht ist es aber auch schon das Totenreich. (Esther Buss, 21.10.2021)