Schon einfache Regeln können viel Komplexität erzeugen. Gute Beispiele dafür sind die Spiele Schach und Go. Im Schach gibt es zwar nur ein paar Spielfiguren mit wenigen erlaubten Zügen, aber gute Strategien zu finden ist sehr kompliziert. Go ist ein noch markanteres Beispiel: Die Regeln sind kinderleicht, jedoch gelang es erst 2016 dem Programm AlphaGo, die stärksten Spielerinnen und Spieler der Welt zu besiegen. Dasselbe gilt für zelluläre Automaten wie Game of life, die mit einfachen Regeln vielfältige, faszinierende Strukturen erzeugen. Auch in der Mathematik genügen bereits einfache Grundrechenarten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, um tiefgreifende mathematische Sätze wie den großen Fermatschen Satz oder die Goldbachsche Vermutung zu formulieren. Einige davon sind bis heute ungelöst.

Im Schach gibt es zwar nur ein paar Spielfiguren mit wenigen erlaubten Zügen, aber gute Strategien zu finden ist sehr kompliziert.
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Vergleichbares passiert auch in vielen anderen Bereichen der Wissenschaft. In der Physik kann man mit sehr einfachen Modellen der Materie, sogenannten Spinmodellen, zahlreiche Phänomene erforschen und teilweise erklären. Heuer ist der Nobelpreis der Physik in diesem Bereich verliehen worden. In der Informatik können simple Modelle von Computern, sogenannte Turingmaschinen, jeden Algorithmus ausführen. Es wäre zu erwarten, dass für jeden Algorithmus ein neuer Computer, eine neue Rechenmaschine gebaut werden muss — es reicht jedoch, auf demselben Computer ein neues Programm zu installieren. Auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz – oder des Machine Learning – können einfache neuronale Netzwerke jede Funktion lernen.

Viele Systeme sind kompliziert, weil sie universell sind

Warum ist es so einfach, Komplexität zu schaffen? Ein Erklärungsansatz hierfür ist Universalität: Ein System ist universell, wenn es alle anderen Systeme seiner Art simulieren kann. So wird ihm die ganze Komplexität in seinem Gebiet zugänglich. Interessanterweise können schon relativ einfache Systeme Universalität erreichen. Einfach ausgedrückt: Viele Systeme sind kompliziert, weil sie universell sind. Das Erreichen von Universalität ist kein kontinuierlicher Prozess: Wenn die Regeln zunehmend schwieriger werden, ändert sich plötzlich die Funktionalität des Systems, Universalität ist erreicht. Nach David Deutsch ist das System dann am Anfang der Unendlichkeit.

Derzeit haben wir auf drei Gebieten ein gutes Verständnis des Phänomens der Universalität: In der Informatik können universelle Turingmaschinen jeden Algorithmus simulieren. Im Bereich Machine Learning zeigen ähnliche Universalitätsaussagen, dass einfache neuronale Netzwerke jede Funktion lernen können. In der Physik können universelle Spinmodelle jedes andere Spinmodell simulieren. Diese drei Begriffe der Universalität wurden unabhängig voneinander entdeckt, teilen jedoch sehr viele Gemeinsamkeiten. Wir glauben, dass sie alle eng verwandt sind. In unserer täglichen Forschung arbeiten wir daran, diese Verbindungen zu präzisieren. Darüber hinaus versuchen wir, diese Ideen auf andere Gebiete wie Biologie oder Linguistik zu erweitern.

Das Lügner-Paradoxon

Universalität hat eine besonders faszinierende Konsequenz: Da ein universelles System jedes andere System seiner Art simulieren kann, ist es auch in der Lage, sich selbst zu simulieren. Selbstreferenz ist dabei nur einen Schritt entfernt von Selbstreferenz und Negation, welche Paradoxa wie "Ich bin eine Lügnerin" nach sich ziehen. Diese Aussage ist genau dann wahr, wenn sie nicht wahr ist. Daher kann man nicht entscheiden, ob sie stimmt oder nicht — man schlussfolgert, dass diese Aussage unentscheidbar ist.

Das Lügner-Paradoxon ist allgegenwärtig in Informatik und Mathematik und tritt in zahlreichen anderen Gebieten in Erscheinung. In der Informatik existiert beispielsweise kein Computerprogramm, das für jedes andere Programm entscheiden kann, ob letzteres halten wird oder nicht — das nennt man das Halteproblem. Warum ist das so? Hätte man so ein Programm, welches das Halteproblem löst, könnte man daraus ein anderes Programm bauen, das genau dann hält, wenn es nicht hält. Das ist das Lügner-Paradoxon für Maschinen. Aus diesem Widerspruch folgert man, dass kein Algorithmus für das Halteproblem existieren kann.

Nicht jede wahre Aussage ist beweisbar

In der Mathematik ist nicht jede wahre Aussage beweisbar – nach dem Gödelschen Unvollständigkeitssatz. Warum ist das so? Weil man eine Aussage der Form "Ich bin unbeweisbar" konstruieren kann.

Eine Friseurin schneidet allen die Haare, die sich nicht selbst die Haare schneiden. Wer schneidet der Friseurin die Haare? Die Friseurin schneidet sich selbst die Haare genau dann, wenn sie sich nicht selbst die Haare schneidet. Die übliche Schlussfolgerung ist, dass eine solche Friseurin nicht existieren kann. Das ist die Russellsche Antinomie und hat weitreichende Konsequenzen für die Mengenlehre, die das Fundament der Mathematik bildet.

Das Logo der Forschungsgruppe.
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Unentscheidbare Aussagen sind keine Ausnahmen, sondern die Regel: Fast alle Fragen sind unentscheidbar. Unentscheidbarkeit ist deshalb eine unvermeidbare Konsequenz der Ausdrucksstärke eines Systems. Es ist die Kehrseite der Medaille Universalität. Unentscheidbarkeit spiegelt sich daher auch im Logo unserer Forschungsgruppe wider, das ein unmögliches Dreieck mit einem Berg vereint. Wir untersuchen die Tragweite der Unentscheidbarkeit in verschiedenen Disziplinen, insbesondere in der Physik.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Macht einfacher Regeln auch deren Untergang ist. Es ist unklar, ob es möglich ist, die Ausdrucksstärke eines Systems von seinen Paradoxa zu entkoppeln, oder ob Universalität und Unentscheidbarkeit immer Hand in Hand auftreten. Es ist jedoch klar, dass Fortschritt in dieser Frage nur möglich ist, wenn wir Universalität und Unentscheidbarkeit als die interdisziplinären und multidimensionalen Phänomene betrachten, die sie sind. (Gemma De las Cuevas, Sebastian Stengele, Tobias Reinhart, 27.10.2021)