Die Aufarbeitung der Regierungskrise muss sich auch den Kontrollrechten des Parlaments widmen, sagt der Verfassungsjurist Udo Szekulics im Gastkommentar.

Chatnachrichten bringen Sebastian Kurz in Bedrängnis. Gegen den nunmehrigen Ex-Kanzler wird wegen Untreue und Bestechlichkeit in der Inseratenaffäre ermittelt.
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SMS- oder Chatprotokolle, die Abgründe der politischen Moral auftun und sogar den Verdacht strafbarer Handlungen erwecken, werden wir in Zukunft wohl nie mehr sehen. Niemand mehr, der im Licht der Öffentlichkeit steht, wird rotzfreche oder heikle Kommunikation so stehen lassen, dass ein Staatsanwalt darauf später zugreifen könnte.

Was immer das politische Resultat dieser Regierungskrise sein wird: Man kann das Staatsvolk nicht in Sicherheit wiegen, dass es zukünftig keine Versuche mehr geben wird, für den eigenen politischen Erfolg unfair oder sogar rechtswidrig vorzugehen. Falls in Zukunft Steuergeld rechtswidrig für politische oder persönliche Zwecke veruntreut wird, werden wir das jedenfalls nicht mehr aus verdächtigen SMS oder Chatserfahren. Jene, die jegliche politische und auch sonstige Moral haben fahren lassen, werden sich zu schützen wissen. Wie sollen wir sie dann erkennen? Gepflegt und verbindlich erschienen bis vor wenigen Tagen auch jene, die ihre eigenen Parteifreunde intern ordinär verleumdeten.

Ausweichende Antworten

Ganz konkret: Details über die im Zentrum der Erhebung stehenden Aufträge aus dem Finanzministerium (oder eben nicht) hätten – ohne Kurznachrichten – nur über die Kontrollrechte der Parlamentsopposition ans Licht gebracht werden können. Diese Fragerechte, die sogenannte Interpellation, werden im Bundes-Verfassungsgesetz, Artikel 52, ganz klar als ein Kontrollrecht eingeführt. Aber den Oppositionsparteien wird immer wieder eine inhaltliche Antwort verweigert, ohne Konsequenzen.

Zum Beispiel wird bei Anfragen zur ÖBB und den Bundesforsten immer wieder, seit Jahrzehnten, von den Ministern geantwortet, dass sich das Fragerecht nicht auf die gewöhnliche Geschäftstätigkeit dieser staatseigenen Unternehmen beziehe. Obwohl die Aufsichtsräte der Bundesforste von der Regierung bestellt werden. Wenn die Volksvertreter hier von ihrem verfassungsmäßigen Kontrollrecht Gebrauch machen und etwa nach der Zahl der verpachteten Seegrundstücke der Bundesforste und der Höhe des Pachtzinses fragen, wird die Antwort verweigert.

Lachhaft formalistisch

Ministerin Juliane Bogner-Strauß beantwortete 2018 die Frage nicht, ob denn der Pennäler Ring, dessen Mitglieder mit antisemitischem Liedgut aufgefallen waren, überhaupt förderungswürdig sei. Sie meinte, eine Frage nach ihrer Meinung müsse sie nicht beantworten, und ignorierte die Tatsache, dass der Vollzug des Bundesjugendförderungsgesetzes ein Kernbereich ihres Familienministeriums war.

Manchmal, wenn es gar nicht mehr anders geht, wird es lachhaft formalistisch. 2018 besuchte Bundeskanzler Sebastian Kurz mit weiteren Politikern eine steirische Volksschule, um unter großer Medienbegleitung Werbung für das aktuelle Bildungsprogramm zu machen. Das widersprach einem Rundschreiben des Unterrichtsministeriums, das parteipolitische Werbung, auch in latenter Form, in Schulen untersagt. Es wurde in einer Anfrage um Aufklärung zahlreicher Aspekte dieser Rechtsverletzung ersucht. Kurz antwortete dazu: "Diese Fragen betreffen keinen Gegenstand meines Vollzugsbereichs." Da die Antwort nicht erzwungen werden kann, gibt es Ausreden sonder Zahl, und ohne jeden Genierer.

Vorbild Deutschland

Das müsste nicht so sein. Man könnte, wie in Deutschland, auch den österreichischen Abgeordneten die Möglichkeit einräumen, den Verfassungsgerichtshof anzurufen, wenn eine Antwort verweigert wird. Dazu gibt es schon Vorschläge, etwa vom SPÖ-Abgeordneten Jörg Leichtfried aus dem Jahr 2019, der einen Einschub ins Bundes-Verfassungsgesetz beantragte: "Artikel 138c. Der Verfassungsgerichtshof erkennt über die Verfassungsmäßigkeit der Beantwortung von Anfragen gem. Art. 52, wenn es sich um die Lösung einer Rechtsfrage handelt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, auf Antrag der anfragestellenden Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates." – Vielleicht ergibt sich in nächster Zeit eine Konstellation im Parlament, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit für diese überfällige Ergänzung der Verfassung möglich macht.

Allgemeines Interesse

Darüber hinaus könnte das Informationsfreiheitsgesetz samt den notwendigen Adaptierungen auf Verfassungsebene endlich beschlossen werden. Auch durch Anfragen von Bürgerinnen können interessante Vorgänge ans Licht gebracht werden. Der Entwurf von Karoline Edtstadler vom Februar dieses Jahres sieht außerdem vor, dass "Informationen von allgemeinem Interesse" von den Behörden in einem für jeden zugänglichen Informationsregister zu publizieren sind. Es müsste sichergestellt werden, dass alle öffentlichen Vergaben, von Inseraten über Gutachten bis zu Bauvorhaben, auf diese Plattform kommen.

Eine Garantie für "Political Correctness" wäre das nicht, doch geeignete Instrumente, um den schlimmsten Verfehlungen auf die Spur zu kommen. Und ein solches Werkzeug werden wir wohl brauchen, wenn das nächste Mal Regierungsmitglieder aus der Spur laufen.

Ethische Maßstäbe

Selbst wenn diese Affäre keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen sollte, bleibt die Notwendigkeit, die formalen Kontrollrechte der Opposition mit materieller Macht auszustatten. Denn das Strafrecht kann doch nicht die Grenze für eine Politik sein, die ethische Maßstäbe für sich in Anspruch nimmt. Die Latte für den ganz normalen Anstand liegt schon etwas höher. Dass es Politiker gibt, die diese Latte ignorieren, hätte man schon früher sehen können. Die schamlose Überschreitung der gesetzlichen Beschränkung der Wahlkampfkosten zeigte doch schon, dass Regelungen ohne echte Konsequenzen einfach ignoriert werden. Auch das müsste nicht so bleiben. In Frankreich wurde kürzlich ein ehemaliger Präsident dafür verurteilt.

Die Aufarbeitung dieser Regierungskrise bleibt unvollständig, wenn nicht Mechanismen verstärkt oder geschaffen werden, die mehr Transparenz und mehr Kontrolle ermöglichen. (Udo Szekulics, 22.10.2021)