Bei unserer Geburt fängt es an. Monatelang sind wir geborgen gewesen, in Sicherheit, schwebend in warmer Dunkelheit, unberührt vom Lärm der Welt, der nur, wenn überhaupt, dumpf und fern zu uns herüberreichte. Dann aber geht es plötzlich aufs Gröbste hinaus. Durch einen viel zu engen Kanal werden wir hinausgepresst in eine uns unbekannte, schrille, laute Welt. Sie jagt uns Angst und Schrecken ein.

Jeder Einzelne unter seinem persönlichen Rettungsschirm? Der Schriftsteller Hans Platzgumer fordert in seinem Essay neue Wege und eine neue Mitmenschlichkeit.
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Instinktiv reagieren wir auf diese Bedrohung, in diesem Moment bedienen wir uns einer Taktik, die viele von uns ihr Leben lang beibehalten: Wir grenzen unser Wahrnehmungsfeld ein. Wir wenden uns dem zu, was uns vertraut erscheint, und blenden alles andere, so gut es geht, aus. Wir beschränken die Welt auf den kleinsten uns bekannten Raum.

An der Einschränkung festhalten

Angesichts unserer augenblicklichen Not und Überforderung als Säuglinge ist ein solches Verhalten das einzig logische. Fast alles spielt sich außerhalb unserer Begreifbarkeit ab, wir müssen uns auf das vertraut Wirkende zurückziehen, wir richten uns in einem kleinen Teil des großen Ganzen ein.

Im Lauf der kommenden Jahre und Jahrzehnte aber, während wir in dieses große Ganze hineinwachsen, halten wir, sofern wir die Möglichkeit dazu haben, allzu leichtfertig an diesem Einschränkungsverfahren fest. Weiterhin beziehen wir uns auf jene paar Vertrauenspersonen, die uns gegeben sind.

Im Zuge des Erwachsenwerdens weitet sich der Kreis auf eine mehr oder weniger eng gefasste Gruppe aus, die wir lernen, als "wir" zu bezeichnen. Das Ich, von dem ausgehend wir ursprünglich und unbeirrbar die Welt begreifen, umrahmen wir mit einem kleinen Wir.

Dass es außerhalb dieses Kokons noch anderes gäbe, ahnen die meisten zwar, doch wir wollen nur das Nötigste davon wissen. Denn falls wir Glück gehabt haben und per Zufall in einen Ausschnitt der Welt hineingeboren worden sind, der uns ein Dasein ohne schwere Turbulenzen ermöglicht, kommt uns die Beschäftigung mit dem Außen nicht dringlich genug und obendrein mühsam vor.

Abschottungen

Wir halten den für uns bestimmten Weltenausschnitt klein. Natürlich gibt es abenteuerlustigere und schreckhaftere Menschen, aufgeschlossenere und in sich verschlossenere. Nach einer kurzen Phase aber, die man Jugend oder auch "die schönste Zeit des Lebens" nennt, in der wir uns der Außenwelt zumindest ein Stück weit öffnen, sinkt das Interesse an Neuem und Unbekanntem erneut.

Je älter wir werden, desto weniger heißen wir es willkommen. Wir machen es uns bequem in unserer kleinen Welt, und anstatt die Grenzen, die wir um uns gezogen haben, immer wieder versuchen neu auszuloten, gehen wir dazu über, diese Grenzen zu behaupten.

Eine solch bornierte Daseinsform ist nicht bloß den konservativen und rechtslastigen Lagern vorbehalten, sie zieht sich heute durch alle politischen Lager und Altersgruppen. Alle schotten sich voneinander ab, betreiben Selbstzensur, Zäune und Mauern werden errichtet. Im Lauf des letzten Jahrzehnts haben sich die Fronten zwischen den Bevölkerungsschichten und Gruppierungen verhärtet.

Freund und Feind

Die rechtspopulistische Maxime "Bist du nicht mein Freund, bist du mein Feind" hat sich tief in die Gesellschaft hineingefressen. Ich erinnere mich, wie ich hierzulande – und das empfand ich als einen der größten Vorzüge der österreichischen Mentalität – vor ein paar Jahren noch mit vollkommen anders gesinnten Menschen offene, freundliche Gespräche führen konnte, weder der soziale Stand, das äußere Erscheinungsbild noch die politische oder sexuelle Ausrichtung verhinderte dies grundsätzlich.

Inzwischen aber ist die Polarisierung so weit vorangeschritten, dass es praktisch unmöglich geworden ist, dass etwa ein FPÖ-Wähler mit einem Grünen oder ein SUV-Fahrer mit einem Klimaschützer besonnen diskutiert. Jeder zieht sich verbissen in sein Lager zurück. Jeder tut, auch wenn er sich auf Halbwissen beruft, als sei er unumstritten im Recht und jedes andere Denken Idiotie.

Diesem Umstand, dass wir eine in verfeindete Fraktionen aufgespaltene Gesellschaft geworden sind und die Fähigkeit des Konsenses verlieren, liegen ein Wirtschaftssystem, das nichts als ein Wettlauf um Wachstum ist, sowie mangelhafte Allgemeinbildung zugrunde. Ersteres raubt uns Kraft und Fantasie, Letzteres lässt unser Potenzial verkümmern. Unser Bildungssystem zielt auf ein Elitensystem ab, in dem die Privilegierten möglichst rasch zu Fachtrotteln ausgebildet werden und die anderen auf der Strecke bleiben.

Konkurrenz und Leistungsdruck

Konkurrenz und Leistungsdruck sind die Grundpfeiler, auf den Umgang mit Diversität, auf Vielschichtigkeit, Kreativität wird wenig Wert gelegt. Von Anfang an werden Grenzen gezogen. Wir hier, die anderen dort. Im Privaten werden diese Grenzen durch die sozialen Medien verstärkt. Hier findet nicht nur jeder Mensch per Mausklick seine maßgeschneiderte Blase, in der er sich von der Außenwelt abkapseln kann, sondern wird Kommunikation auf den Austausch von Schlagwörtern und Floskeln reduziert.

Stammtische waren immer schon Orte der Verblödung, digitale Stammtische sind es noch mehr. Darüber hinaus trugen in letzter Zeit die Finanz-, Flüchtlings-, Corona- oder Klimakrisen dazu bei, dass wir unseren Mitmenschen oft abwehrend gegenüberstehen. Wir bewohnen mehr gegeneinander anstatt miteinander unseren Heimatplaneten, jeder Einzelne für sich, auch jede einzelne Gruppe, jedes einzelne Land für sich.

Gut, so ist das nun einmal, möchte man sagen, so hat es sich entwickelt, es ist müßig, darüber zu lamentieren. Doch leider befinden wir uns in einer der komplexesten und bedrohlichsten Krisen der Menschheitsgeschichte. Wir haben im Fortschrittsrausch das Ökosystem und das Klima der Erde kippen lassen. Wir haben zerstörerische Entwicklungen in Gang gesetzt, die wir nur gemeinschaftlich lösen können, wenn wir, ohne Zeit zu verlieren, alles Wissen und Talent dieser Welt unvoreingenommen zusammenführen.

Klimatische Kipppunkte

Legen wir nicht endlich das egoistische, rivalistische Scheuklappendenken ab, das sämtliche Bereiche unseres Daseins durchsickert, kommen wir nicht mehr vom Weg der möglichst raschen Selbstauslöschung ab, den wir beschritten haben. Das Ende des Anthropozäns ist eingeläutet. Laut Studien werden bereits in drei Jahren klimatische Kipppunkte erreicht sein, die Leid, Krieg, Elend, Massensterben und Migrationswellen in ungekanntem Ausmaß zur Folge haben.

Wollen wir dies verhindern, müssen wir lernen, Grenzen nicht zu schließen, sondern zu öffnen, und es wagen, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, offen zu sein für alles, was wir dort draußen sichten könnten. Bleiben wir dem eingeschlagenen Weg der Ausgrenzung treu und stellen wir unseren ausbeuterischen, verschwenderischen Lebensstil nicht um, müssen wir uns von einer Welt verabschieden, die uns lebenswert erscheint.

Ich sage nichts Neues, ich weiß, die Fakten dürften inzwischen allen klar sein. Trotzdem verhalten wir uns nach wie vor so, als ginge es uns nichts an. Ich habe noch nie so viele Motorräder oder Tuner-Cars auf unseren Straßen gesehen wie in letzter Zeit, der Lkw-Verkehr hat nach einer kurzen Corona-Pause ein neues Rekordniveau erreicht, und als ich kürzlich von einer Bergwiese aus den Himmel betrachtete, gab es keine Sekunde, in der nicht mindestens zwei bis drei Flugzeuge gleichzeitig über mich hinwegflogen.

Glück statt Müll

Die Bodenversiegelung, die Verschmutzung der Meere, die Rodung der Wälder, der CO2-Ausstoß, alles geht ungebrochen voran. Die Plastikproduktion wurde sogar hochgefahren und wird sich, laut derzeitigem Stand, bis Ende dieses Jahrzehnts verdoppelt haben. Können wir nicht anders, oder wollen wir nicht anders? Ist uns an der Rettung der Welt gelegen? Sind wir bereit, dafür Verzicht in Kauf zu nehmen, Einschränkungen unseres Konsumverhaltens zu akzeptieren? Oder bevorzugen wir, in vollem Tempo, sehenden Auges in den Untergang zu ziehen?

Als jene Babys, als die wir auf die Welt kamen und uns sogleich schreiend in die kleine, einzige Geborgenheit flüchteten, die uns vertraut war, waren wir noch unschuldig. Wir konnten nicht wissen, was los ist. Heute aber wissen wir es. Wir sind keine Babys mehr, wir können uns nicht auf die Unschuld berufen.

Wir alle tragen zur Hölle bei, zu der wir die gute alte Erde machen. Wir tun es bei vollem Bewusstsein. Noch können wir die Engstirnigkeit ablegen und einen Wandel erreichen, aber wann fangen wir endlich damit an? Warum trauen wir uns nicht mehr zu als das, was aus uns geworden ist? Trauen wir uns doch endlich, unser Leben und unser Denken radikal infrage zu stellen und zu ändern!

Es liegt nur am Willen

Es wäre nicht schwierig, es liegt nur am Willen. Der Mensch ist anpassungsfähig, Veränderung ist Teil seines Wesens. Wir müssen neue Mitmenschlichkeit, neuen Respekt gegenüber Fremdem, neue Weltoffenheit, neue Zurückhaltung entwickeln, und alles, was wir tun, müssen wir einer Schaden-Nutzen-Rechnung unterziehen.

Sie wird zeigen, dass ein Großteil der Dinge nicht angemessen ist, die unsere exzessive Wegwerf- und Konsumgesellschaft auszeichnen. Wir müssen einem Gefühl für das große Ganze statt dauernd nur der Sorge um die eigenen Befindlichkeiten nachgeben. Würden wir wollen, könnten wir all unseren angehäuften Ballast, all die sinnlosen Beschäftigungen loswerden, die mehr Müll als Glück produzieren.

Mit Leichtigkeit wären wir dazu imstande. Eine kurze Umgewöhnungsphase. In ein paar Jahren würden die Geschichtsbücher davon erzählen, wie destruktiv wir einst lebten, und die Welt könnte eine andere, bessere, gesündere sein. Wenn wir wirklich wollten. Wenn alle wirklich wollten. (Hans Platzgumer, ALBUM, 23.10.2021)