Marie NDiaye überzeugt auch mit ihrem zwölften Roman.

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Sie ist eine der faszinierendsten Stimmen der französischen Literatur, die franko-senegalesische Sprachmagierin Marie NDiaye, die mit 17 Jahren ihren ersten Roman veröffentlichte und 2009 mit Drei starke Frauen als erste schwarze Autorin den Prix Goncourt gewann. Nun ist ihr zwölfter Roman Die Rache ist mein auf Deutsch erschienen.

Lebte Claude Chabrol noch, er hätte seine Freude an der Verfilmung dieses Psychothrillers gehabt: Eine französische Provinzstadt mit dunkler Vergangenheit, die die Pracht ihrer Häuser mit Kolonial- und Sklavenhandel erkauft hat, eine saturierte Bourgeoisie, die sich seit François Mauriacs Romanen gleich geblieben ist, düstere Familiengeheimnisse, dazu noch Klassenkonflikte und Migration, viel Nebel und Eiseskälte und eine Grundsituation, die bis zum Schluss nicht aufgeklärt werden kann.

Die 42-jährige unscheinbare Protagonistin ohne Vornamen, die sich aus ärmlichen Verhältnissen zur Anwältin mit einer bescheidenen Kanzlei in Bordeaux hochgearbeitet hat und die stets nur in dieser Funktion benannt wird, erhält Besuch von einem gewissen Gilles Principaux aus besseren Kreisen, der sie bittet, die Verteidigung seiner Ehefrau zu übernehmen, die gerade die drei gemeinsamen Kinder ertränkt hat.

Die Schleifer lüften

Maître Susane, die Anwältin, glaubt, ihn als die Person wiederzuerkennen, die vor über 30 Jahren, als sie zehn und er 14 Jahre alt war, an einem Nachmittag in einem Zimmer des elterlichen Hauses ihr Leben entscheidend geprägt hat, als sie ihre Mutter dorthin zur Hausarbeit begleitet hatte. Sie hatte diesen Jungen geliebt, dessen Zimmer ihr kulturell eine neue Welt erschlossen hat, und sie hat die Erinnerung an dieses Erlebnis leidenschaftlich geliebt, meint sie.

Von nun an versucht sie, sich bewusst zu erinnern, die Schleier zu lüften, den Nebel zu durchdringen. Sie legt sich Erinnerungen zurecht, die ihre eigenen Eltern schnell widerlegen, was zum Bruch zwischen ihnen führt.

Die Anwältin bleibt eingeschlossen in ihre Vergangenheit zwischen Hellsicht, Wahn und Mythomanie. Jede vermeintliche Aufklärung wird sofort wieder vom Zweifel überdeckt. Das damalige Geschehen bleibt wie ein Geschwür in ihrer Seele und hindert sie am Leben. Die Frage, wer Gilles Principaux für sie war, wird nicht beantwortet. Dieser selbst nimmt sie kaum wahr, behauptet, sie nicht zu kennen.

Drei Frauen

Auch in diesem Roman stehen wieder drei Frauen im Mittelpunkt, deren Leben zerstört ist, auch das der Kindsmörderin, einer modernen Medea, die ihre Kinder angeblich über alles geliebt hat und die nun in einem zehnseitigen Monolog, der wie ein Peitschenhieb ist, mit unendlichen Abers ihren Hass auf den Ehemann herausschreit, der sie, die begeisterte Lehrerin, in ein Puppenhaus à la Bordelaise gesperrt hat. Dieser verteidigt sich in einer ans Absurde grenzenden Tirade mit unzähligen Weils, ohne dass die Wahrheit über diese nach außen auf Hochglanz polierte Ehehölle offenbar wird.

Daneben wird noch das Schicksal von Sharon, Maître Susanes mauretanischer Haushaltshilfe, erzählt, die mit Ehemann und zwei Kindern als illegale Migrantin in ärmlichsten Verhältnissen lebt. Auch in dieser Familie herrschen Feindseligkeit, Lüge und Hass: Der ältere Bruder war gegen die Auswanderung und verweigert der Schwester die Papiere, sodass Sharon und die Ihren keine Chance haben, im Traumland Frankreich wirklich anzukommen.

Schließlich begibt sich die Anwältin selbst nach Mauritius, um die Heiratsurkunde zu holen. Auch im gleißenden Licht der Insel sind die Gefühle eingefroren, gibt es keine Aufklärung. Mit Sharons Geschichte wird ein Kapitel französischer Kolonialgeschichte aufgeschlagen: Die modernen Sklaven werden in den prachtvollen Häusern, die wie Gräber sind inmitten erstarrter Parks, als Haushaltshilfen ausgebeutet.

Der Kreis schließt sich

Familiäre Urkonflikte werden in diesem Roman geschickt mit der französischen Kolonialgeschichte verbunden. Das Schlussplädoyer der Anwältin wird zur Anklage gegen den Wunsch, die Frauen in ihrer Einsamkeit und der Leere ihres Daseins einzusperren, wobei die prächtigen Häuser Zeugen, Helfershelfer und Komplizen der Verbrechen zugleich sind. Insofern schließt sich der Kreis zum Anfang: Angeklagt sind Gilles Principaux und Bordeaux.

Keine der Figuren lädt zur Identifikation ein, alle sind voller Schatten und Geheimnisse, immer häufiger verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Halluzination und Wahn. So wie die äußere Welt von Nebel, Glatteis und arktischer Kälte bestimmt ist – Dunst, Nebel, Kälte, Eis sind die am häufigsten vorkommenden Wörter –, so sind die Beziehungen der Personen untereinander bestimmt von Heuchelei, Feindseligkeit und Hass.

Marie NDiaye ist eine Meisterin des Suspense, der Spannung, der Zweideutigkeit. Ihre Figuren sind ohne inneren Kompass, ihre äußeren Konturen zerfließen, der Leser bleibt ratlos zurück.

Eine spannende Lektüre, auch wenn sie vielleicht nicht für jeden ein Bijou oder ein Grand Cru wie für die französische Kritik ist. (Barbara Machui, ALBUM, 23.10.2021)