Uneitel und ernst durchs romantische Repertoire: Dirigent Bernard Haitink.

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Amsterdam – So, wie man jenen die Kompetenz nicht absprechen kann, die mit übergroßer Geste Symphonieorchester betören, so ist es ratsam, auch jene nicht zu unterschätzen, die mit winzigen, kaum sichtbaren Zeichen ihre Ideen vermitteln. Vergegenwärtigt man sich den schwärmerisch-besessenen Carlos Kleiber und als Gegenpol etwa den Italiener Carlo Maria Giulini, der in seiner Reifephase mit Fingerspitzenminimalismus Bruckners Symphonien dirigierte, ahnt man, dass die Kommunikation zwischen Dirigent und Orchester eine rätselhafte und an Äußerlichkeiten nicht festzumachende ist.

Bernard Haitink gehörte zwar nicht zu den gestischen "Reduktionisten", der Niederländer war ein Maestro der deutlichen Zeichen. Seine Überzeugungskraft rührte jedoch auch nicht vom glanzvollen Effekt her. Haitink war eher der introvertierte Pultstar, der es nicht nötig hatte, sich als einer zu geben. In seinem Stil fand sich auch so etwas wie Ehrfurcht vor den Meisterwerken, denen er ohne jeglichen Manierismus begegnete.

Seine Ästhetik fußte gewiss auf der Erfahrung mit dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester. Haitink, 1929 in Amsterdam geboren, wuchs mit diesem dunklen, kultivierten Klang gleichsam auf und erhielt sogar Geigenunterricht von einem Mitglied des Orchesters. Keine 30, sprang Haitink dann als Dirigent für den erkrankten Carlo Maria Giulini ein, um ein paar Jahre später dort Chefdirigent zu werden. Bei den Amsterdamern blieb er mehr als zwei Jahrzehnte, später wurde er auch Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra und Musikdirektor am Londoner Covent Garden. Auch mit den Wiener Philharmonikern pflegte er über Jahrzehnte eine intensive Beziehung und wurde auch zum Ehrenmitglied des Orchesters ernannt.

Aufgeladenheit des Klangs

Er wirkte prägend bei Werken von Bruckner, Mahler, Brahms und Schostakowitsch, für den er mit der Gesamtaufnahme aller Symphonien Pionierarbeit geleistet hat. Woran er auch immer gearbeitet hat: Haitink erweckte nie den Eindruck, er würde das Interpretieren aus einer Pose der Überlegenheit heraus leicht nehmen. Sein Dirigieren schöpfte Tiefe aus einem quasi ergrübelten Verständnis des musikalischen Materials. Die Substanz seiner Interpretationen fußte auf würdevoller Ernsthaftigkeit und materialisierte sich in der Dichte und Aufgeladenheit des Klangs bei gleichzeitiger Abwesenheit von gefühliger Verschwommenheit. Sein Brahms wirkte denn auch auf uneitle Art und Weise impulsiv.

Haitinks Ideen hatten dabei auch "Gewicht", da er, der als junger Dirigent Wilhelm Furtwängler bewunderte und später Carlos Kleiber, nicht buchstabierte, sondern Details in Emotionen verwandeln konnte. Die Emotionen uferten jedoch nicht aus, sie waren eingefasst in eine nie exzentrisch gebrochene Gesamtdramaturgie. Das musikalisch Emphatische stand bei ihm also auf dem Fundament der Präzision. Dieser Zugang ließ Haitink zum uneitlen Charismatiker, zum großen Bruckner-Dirigenten werden, der auch bei Gustav Mahler symphonischen Weltentwürfen kitschfrei Tiefe erwirken konnte. Bernard Haitink ist am Donnerstag in seinem Haus in London im Alter von 92 Jahren gestorben. (Ljubiša Tošić, 22.10.2021)