Die Art, wie ein Arzt sein Wartezimmer eingerichtet hat, ist auch eine erste Botschaft an die Patienten. Die Botschaft im Wartezimmer von Martin Oswald ist ziemlich deutlich. Keine Stühle. Zumindest fast keine, nur in einer Ecke steht einsam ein Thonetstuhl. Eine Notsitzgelegenheit für ältere Menschen, erklärt Dr. Oswald. "Der Mensch muss ja schauen, dass er den Stuhl meidet. Er muss den Stuhl als Feind erkennen!", ruft der Arzt und klingt dabei deutlich begeistert von seiner These. Oswald, tiefgebräuntes Gesicht, tiefenentspannte Stimmung, führt in einer kurzen weißen Hose an einem Ruhetag durch seine Ordination. In einem Jugendstilhaus in Augsburg hat sich der Chirurg eine Welt nach seinem Willen geformt – eine Welt ohne Stühle.

"Kaum ein Organ wird durch das Sitzen nicht geschädigt. Jede Minute, die man weniger sitzt, ist eine gewonnene."

Dr. Thomas Filipitsch

In seiner schwäbischen Heimat gilt Oswald als Spezialist für Krampfadern und Hämorrhoiden. Bei Forschungsreisen nach Äthiopien in den Neunzigerjahren stellte der Mediziner fest, dass Menschen aus Naturvölkern keine Krampfadern hatten – weil diese Menschen ohne Stühle lebten, lautete seine Schlussfolgerung. Auch andere Krankheiten wie Thrombosen, Verstopfungen, Verhärtungen im Schließmuskel bis zu Dickdarmkrebs führt Oswald darauf zurück, dass wir in Europa unsere Tage zu weiten Teilen auf Stühlen, Sesseln und Sofas verbringen.

Kein Sitzenbleiber

"Die natürliche Haltung des Menschen gerät durch das Sitzen auf dem Stuhl ins Schiefe. Wir empfinden den Stuhl als bequemes Hilfsmittel, und das ist genau der Fehler", sagt Oswald. Während des Gesprächs wechselt der 69-Jährige immer wieder die Position, indem er abwechselnd auf dem Holzboden seiner Ordination sitzt, hockt und kniet. Das sieht eigenartig aus, er wirkt aber ziemlich fröhlich dabei.

Seit rund 22 Jahren sitzt Oswald nun nicht mehr auf dem Stuhl – zumindest nicht auf jene Weise wie alle anderen Europäer. Im Behandlungszimmer steht sein Computer auf einem niedrigen Tisch, die Tastatur liegt auf einem winzigen Hocker. Wer Stühle meidet, lebt und arbeitet weiter unten. Wenn Oswald im Restaurant isst, lässt er sich im Schneidersitz auf dem Stuhl nieder. Muss er mit dem Zug reisen, kauert er sich zwischen den Abteilen auf den Boden. Beim Abendessen mit seiner Lebensgefährtin und seinen zwei Kindern muss der Doktor im Knien speisen, um mit der Frau, die auf einer Eckbank sitzt, auf Augenhöhe zu kommen. Selbst auf dem Klo macht Oswald keine Kompromisse, dort hockt er mit den Fußsohlen auf der Klobrille, um sich naturgemäß zu erleichtern.

Selbst auf dem Klo geht Oswald keine Kompromisse ein – er hockt auf der Klobrille.
Foto: Lukas Kapeller

Langes Sitzen ist tatsächlich alles andere als gesund, das gilt mittlerweile als medizinisches Gemeinwissen. Australische Ärzte rieten im Jahr 2015 im European Heart Journal: Wer steht, statt zu sitzen, verbessere seine Herzgesundheit und seine Blutwerte. Auch Diabetes, Schlaganfälle und Krebserkrankungen führten die Forscher auf das stundenlange Sitzen zurück. Deutsche Medien titelten damals: "Sitzen ist das neue Rauchen."

Die Stuhlvermeidung

Trotzdem vermeidet wohl niemand in Deutschland und Österreich so konsequent Stühle wie Martin Oswald. Deutschland hat rund 600.000 Vereine, auch solche für die obskursten Leidenschaften. Aber einen Verein für Stuhlvermeidung gibt es nicht. Man findet von Oswald zwar ein paar Youtube-Videos, jedoch keine mit Anleitungen zum gesunden Sitzen. "Ich will kein Guru sein", sagt er. Die Patienten sollen laut seinem Ansatz selbst draufkommen, dass das Stuhlsitzen sie quäle, so wie’s bei ihm gewesen sei. "Ich bin der Einzige, der so lebt und sich so umgestellt hat", sagt Oswald zufrieden. "Ich bin der Weltmeister in meinem Fach." Dass er immer weitermacht, erklärt er mit seinem "medizinischen Wissen" und einer gewissen "schwäbischen Sturheit".

Im Jahr 2016 bestätigte eine großangelegte Studie der Norwegian School of Sport Sciences und der Universität Cambridge noch einmal, was der Doktor aus Augsburg schon lange wusste. Das Sitzen verkürzt unser Leben. Professor Ulf Ekelund und sein Team hatten dafür 16 Studien mit Daten von insgesamt mehr als einer Million Menschen zusammengefasst. Die Schlussfolgerung, die Ekelund zog, gefiel Oswald dann aber weniger: Wer 60 bis 75 Minuten täglich Sport treibe wie Joggen oder Radfahren, der würde die ungesunde Wirkung von acht Stunden täglichen Sitzens ausgleichen.

In diesem Video erklärt Martin Oswald, warum er seit mehr als 20 Jahren nicht mehr sitzt.
Dr. Martin Oswald

Besuch in der Ordination von Dr. Thomas Filipitsch in Wien-Alsergrund. Er ist wie Martin Oswald ein erfahrener Chirurg und hat ein ähnliches Fachgebiet – Venenprobleme, Hämorrhoiden, Darmerkrankungen. Filipitsch kommt auch zu ähnlichen Urteilen. "Kaum ein Organ wird durch das Sitzen nicht geschädigt", sagt er. "Jede Minute, die man weniger sitzt, ist eine gewonnene Minute." Während der Arzt das sagt, sitzt er jedoch auf einem Bürostuhl. "Oft geht es nicht anders, das ist das Problem", sagt der 58-Jährige. Er versuche abends mit Yoga und tagsüber durch das Sitzen auf einem sogenannten Sattelstuhl gegenzusteuern.

Oswald legt die Stirn in Falten, wenn er das hört. Er schüttelt den Kopf. "Die Erdanziehungskraft", holt er aus, "wirkt jeden Tag an jedem Ort auf jedes Wesen der Erde." Deshalb sei das mit dem Sitzen so bedeutsam, es sei der tägliche Kampf des Menschen um seine Haltung. Oswald schließt die Augen, er ringt nach den richtigen Worten, das sei ihm jetzt wichtig. "Die Medizin kommt ja erst nach der Natur", sagt er. "Die Natur ist das Richtige, das Optimum. Es gibt keinen Kompromiss in der Natur."

Wer sitzt, der schädigt sich

Könnte ein besonders ausgeklügelter, ergonomischer Stuhl helfen? Oswald winkt energisch ab. "Je bequemer ein Stuhl ist", sagt er, "desto schlechter ist er für den Menschen." Daher könne er auch niemandem raten, einfach weniger Stunden auf dem Stuhl zu verbringen. Raus aus dem Stuhl sei die einzige Lösung. Das Stuhlsitzen sei ein "mechanisches Gift", das unsere Haltungsmuskulatur samt Bindegewebe degenerieren lasse. "Knapp daneben ist immer noch falsch", ruft der Chirurg, da gibt es für ihn keine halben Sachen.

Martin Oswald ist vor allem eines: konsequent. In seiner Ordination hockt er vor dem Computer, Schuhe trägt er auch nie.
Foto: Lukas Kapeller

Vor einem Jahr befragte der deutsche Fernsehsender 3sat andere Ärzte zu Oswalds Thesen. Es gebe zwar "einen Zusammenhang zwischen dem Sitzen und vielen Krankheiten", aber die Ursachen seien vielfältiger, entgegnete der renommierte Gefäßchirurg Ulrich Radtke seinem Augsburger Kollegen. Oswald zeigt sich davon heute wenig beeindruckt. Radtke sei wie viele Ärzte noch "in einem anderen Stadium der Erkenntnis", sagt er.

Wenn schon die Wissenschaft träge bleibt, will wenigstens er selbst so natürlich und geschmeidig wie möglich leben. In seinem alten Porsche, den Oswald "ein Relikt aus einem früheren Leben" nennt, hat er die Lehne maximal nach hinten geklappt, unterm Fahrersitz hat er sich ein Holzbrett hineinzimmern lassen. So lenkt er seinen Porsche durch Augsburg, mit geradem Rücken, steif wie ein Pinsel. Wenn er das Auto verlässt, läuft er barfuß, so wie er es immer tut, zu jeder Jahreszeit. Wie den Stuhl versteht Oswald auch den Schuh als unnatürliches Werkzeug, ohne das der Mensch besser dran sei.

Wer muss schon rechnen?

Man fragt sich, ob so ein Alltag nicht furchtbar anstrengend ist. Und ob die Energie, die Oswald fürs ständige Hocken, Stehen, Knien und Kauern einsetzen muss, nicht anderswo fehlt. Oswald muss lachen, ja, da habe er schon viel drüber nachgedacht. Der Sitzende denkt anders als der Stehende, sagt er, das hätten schon die alten Römer gewusst.

Der Mediziner nennt als Beispiel die Schule: "Einer, der auf dem Stuhl sitzt und sich auf etwas Theoretisches wie Lesen, Schreiben und Rechnen konzentriert, der schreibt oder rechnet wahrscheinlich besser als einer, der dabei auch stehen muss." Also lernt und denkt der Sitzende besser? Oswald lächelt verschmitzt, er wolle ehrlich sein. "Leider könnte ich mir das vorstellen", antwortet er leise. Aber das sei ja nicht schlimm, fügt er gleich hinzu: "Der Mensch ist ja für die Natur geschaffen, und in der Natur gibt es kein Rechnen und Schreiben." (Lukas Kapeller, 23.10.2021)