Das von Netflix produzierte "Squid Game" für südkoreanische Serien untypisch, sagt Korea-Expertin Alexandra Schiefert: "Gewalt und Sexszenen kommen in südkoreanischen Serien so gut wie nie vor."

Foto: Netflix

In Südkorea hat "Squid Game" längst die Tagespolitik erreicht. Vor den im kommenden März stattfindenden Präsidentschaftswahlen nutzen Politiker die Serie für Wahlauftritte und fordern Gegner zum "Squid Game" heraus. Am Donnerstag gingen in Seoul tausende Demonstranten auf die Straße, um gegen die Arbeitspolitik der Regierung zu demonstrieren – verkleidet zum Teil mit Masken und Anzügen aus der Serie. Im benachbarten Nordkorea dient der Netflix-Hit als abschreckendes Beispiel für die Verkommenheit kapitalistischer Systeme.

Etwas unheimlich ist es schon: Da ist ein hypergewalttätiger südkoreanischer Thriller, in dem sich hoch verschuldete Menschen gegeneinander aufhetzen, ausspielen, für die Aussicht auf einen Geldgewinn lügen, betrügen, dafür Großmutter, Kind und Kegel verkaufen würden und sogar ihr Leben riskieren, sprich: abgeknallt zu werden, was in den allermeisten Fällen auch passiert. Und genau das schlägt weltweit – in Entwicklungs- und Schwellenländern ebenso wie in fortgeschrittenen Volkswirtschaften – hohe Wellen und bricht bei Netflix alle Rekorde. Mit Inhalten alleine lässt sich das nicht erklären, ein Blick in die südkoreanische Produktionslandschaft gibt weitere Aufschlüsse über die Ursache des Erfolges.

Netflix Deutschland, Österreich und Schweiz

Südkoreanische Lebenskultur findet bereits seit längerem weltweit Anklang. Serien, Filme, Elektronik, Reisen und Essen liegen spätestens seit 2005 im Trend, als Youtube K-Popbands und K-Dramen unters Volk brachte. Ein Trend, den Südkorea selbst zu nutzen weiß, um den sogenannten "Hallyu"-Kult – die weltweite Faszination an der zeitgenössischen Popkultur des südostasiatischen Landes – zu verbreiten.

So kümmert sich zum Beispiel seit letztem Jahr ein eigenes Departement im koreanischen Kulturministerium darum, die Bekanntheit von "Hallyu" in der Welt zu steigern. Allein 35 Millionen Euro sind für die internationale Zusammenarbeit und den Export kultureller Inhalte vorgesehen. Darüber hinaus sind 15 Millionen Euro für die Produktion von digitalen-Inhalten und rund 4,4 Millionen Euro für die Schaffung von Inhalten im Zusammenhang mit geistigem Eigentum vorgesehen. Das schlägt sich in den Exportzahlen nieder. Die Erlöse für kulturelle "Hallyu"-Inhalte steigen laut einem Bericht der Korea Foundation for International Cultural Exchange von 3,1 Milliarden US-Dollar 2016 auf rund 10,3 Milliarden 2019. Die Summen berechnen sich aus der Multiplikation der Exporteinnahmen aus der Ausfuhr kultureller Inhalte mit dem Koeffizienten der Auswirkungen von "Hallyu".

Dabei ist das von Netflix produzierte "Squid Game" für südkoreanische Serien untypisch, sagt Korea-Expertin Alexandra Schiefert: "Gewalt und Sexszenen kommen in südkoreanischen Serien so gut wie nie vor." Die Erzählungen folgen stets einem ähnlichen Muster, sagt Schiefert: "Meistens gibt es drei Figuren, und es geht hauptsächlich um die Frage: Mit wem kommt sie zusammen?" Jede Folge ende mit einem Cliffhanger, die Serie selbst mit Happy-end. Alles laufe sehr züchtig ab, das höchste der Gefühle kann dann schon einmal Händchen halten sein. "Es geht ums Abschalten, darum sich gut zu fühlen", erklärt Schiefert: "Zu 99 Prozent" würden in Südkorea produzierte Serien dieses Eskapismus-Thema bedienen.

Netflix setzt auf den internationalen Markt, wo es neben "Squid Game" in Serien wie "Kingdom" und "Sweet Home" weitaus härter und brutaler abgeht.

Wichtigster europäischer Abnehmer von südkoreanischen Serien ist Frankreich

Die Beliebtheitswerte koreanischer Serienware steigen rasant. Bei der Mipcom in Cannes, der größten Lizenzmesse Europas, waren zuletzt südkoreanische Produktionen schwerpunktmäßig vertreten. Zu den größten Abnehmern von Hallyu-Content zählen hauptsächlich asiatische Länder wie Indoniesien, Vietnam und Malaysia, wichtigster europäischer Abnehmer ist Frankreich.

Die hohe Nachfrage sorgt für einen Serienboom im Land. Koreanische Produktionsfirmen schießen jährlich mehr als hundert Serien in den Orbit. Zum Vergleich: Der Big Player USA produzierte 2020 rund 500 davon. Einen Hype erlebt aber auch die Showbranche, zuletzt etwa bei der Castingshow "The Masked Singer". Auch in Österreich singen auf Puls4 prominente Sängerinnen und Sänger in Fantasiekostümen. Einen Boom erleben in Südkorea selbst laut Schiefert Webdramen – zehnminütige Filmchen, die auf dem Weg zur Schule bequem konsumierbar sind.

Drei Großproduzenten teilen sich den Markt

Das Business selbst erweist sich als beinhart. Drei Großproduzenten – SM, YG und JYP – teilen sich den Entertainment-Markt. Die Talentesuche erfolgt zum Teil auf der Straße, eigene Scouts sprechen potentielle Stars an und werben für ihre Ausbildungsschmiede: "Die Eltern müssen ihre Einwilligung abgeben, damit die Kinder in zwei- bis dreijährigen Trainings aufgenommen werden dürfen." Bands wie die weltweit enorm populäre Boyband BTS sind so entstanden.

Für die Ausbildung müssen die Trainees vorerst nichts bezahlen. Sobald diese aber in einer Gruppe debütieren, sollen genau diese Trainingskosten abgearbeitet werden. Ist die Schuld beglichen, werden die Idols auch bezahlt. Für ganz viele endet der Spaß aber schon vorher, denn es findet eine gnadenlose Auslese statt: "Da heißt es ganz oft: Du hast doch nicht genügend Talent oder du schaust einfach nicht gut genug aus. Dann können sie noch hoffen, dass sie in einer andern Entertainmentfirma unterkommen, oder sie landen in Castingshows, nach denen ein Auftritt in einer weiteren Show oder Gruppe winkt", erklärt Schiefert. In diesem Punkt ist die Realität überspitzt formuliert mit "Squid Game" vergleichbar: Bei Misslingen wartet der Tod. (Doris Priesching, 22.10.2021)