Ideal ist ein Winkel von 20 bis 25 Grad: Genau so, erklärt die plastische Chirurgin Barbara Greibl, legt sie die Ohren an, die das viele Maskentragen verstellt hat. "Sind die Bänder zu kurz, drückt das die Ohren permanent nach vor – langfristig wirkt sich das aus."
Es ist kein seltener Eingriff, vor allem nicht momentan: In den eineinhalb Jahren, die die Pandemie schon andauert, ist die Nachfrage nach Ohranlegeplastiken in die Höhe geschnellt. Das trifft nicht nur auf Greibls Ordinationen in Wien und Linz, sondern auch auf viele andere Praxen im Land zu.
Die Korrektur der maskenbedingten Ohrendeformierung ist nicht der einzige Eingriff, den Patientinnen und Patienten seit Corona verstärkt nachfragen. Das Herunterfahren der sozialen Kontakte, die Verlagerung des Büros in die eigenen vier Wände, das ungünstige Licht und unvorteilhafte Blickwinkel beim Videotelefonieren haben Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung zahlreicher Menschen gezeitigt. Beratungsgespräche bei den bekanntesten plastischen und ästhetischen Chirurgen sind teils erst nach mehrwöchiger Wartezeit zu bekommen.
Botox und Hyaluron
Barbara Greibl hört derzeit vor allem zwei Anliegen: Die Menschen wünschen sich vermehrt Unterspritzungen, also Behandlungen mit dem Nervengift Botox oder verstärkt mit Hyaluronsäure. Die gelartige Substanz ist ein natürlicher Bestandteil des Bindegewebes, sie findet sich in der Haut, in Knorpeln und Gelenken.
Im Alter baut der Körper Hyaluronsäure ab, künstlich hergestellt kann sie gecremt, getrunken oder eben gespritzt werden. In die Haut injiziert, ebnet sie Falten, formt Kinn, Nasen und Wangen neu oder füllt Lippen auf. Diese Art von Verfahren sind "mehr geworden", sagt die Ärztin Greibl.
Aber nicht nur Unterspritzungen trenden: "Die Leute zögern auch weniger, operativ etwas machen zu lassen." Schließlich würden nach wie vor viele im Homeoffice arbeiten, wo der Heilungsprozess leichter zu verbergen sei. Brustoperationen etwa seien "immer ein Renner, aber je besser man die Operation verstecken kann, desto geringer sind die Hemmungen". Trotzdem liegt der Fokus derzeit klar im Gesicht. Besonders gefragt sind Straffungen der Ober- und Unterlider oder auch ein komplettes Facelift von der Stirn bis zum Hals.
Fokus Gesicht
Für die optische Verjüngung stehen inzwischen eine ganze Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung. Beliebt sei aktuell zum Beispiel das "Ponytail-Lift". Dabei werden die Augenbrauen etwas angehoben, Unterlider, Wangen und Hals gestrafft und so ein Effekt erzielt, der jenem eines streng zurückgebundenen Pferdeschwanzes ähnelt. "Ein absoluter Trend" seien auch die "Foxy Eyes", sagt Greibl: große Augen mit hoch sitzenden Augenbrauen. Dafür werden die Muskeln rundherum gelähmt oder mit Filler aufgefüllt.
Für den Hals gibt es das "Nofretete-Lifting": Ist der Halsmuskel zu stark, zieht er die Kinnwinkel nach unten. "Lähmt man den Muskel mit Botox, tritt er nicht mehr so stark hervor", was auch die Kinnlinie modelliere ("Jawline-Contouring"). Ziel ist der jugendliche Schwanenhals der schönen Ehefrau des ägyptischen Pharaos Echnaton.
Lippen und Lider
Vor allem minimalinvasive Eingriffe, die schon seit Jahren zunehmen, hätten in der Pandemie einen "zweiten Frühling erlebt", bestätigt der plastische Chirurg Rolf Bartsch. Viele, die sich davor nicht getraut hätten, würden jetzt etwa erstmals Lippenaufspritzungen probieren – weil sich etwaige Folgen wie blaue Flecken unter den Schutzmasken oder durch die Telearbeit verstecken lassen.
Lidstraffungen seien ebenfalls hoch im Kurs, sagt Bartsch, da durch die Maske "die Kommunikation mit den Augen wichtiger geworden ist". Zu sehen sei oft nur die obere Gesichtshälfte, "hier liegt die ganze Aufmerksamkeit. Sind dort Falten, hat man das Gefühl, diese besonders stark zu sehen."
Clara M. aus Niederösterreich entschied sich im vergangenen April für eine kleinere Nasenkorrektur mittels Hyaluronspritze. Sie möchte anonym bleiben, weil ihr der Schritt "irgendwie doch ein wenig peinlich" sei – "obwohl ich eigentlich nicht genau weiß, warum".
Immer schon habe sie ihre Nase als zu lang empfunden. Den Mut, sich unters Messer zu legen, hätte sie niemals aufgebracht, sagt die 52-Jährige. Die Unterspritzung sei die Lösung gewesen. Einigen Bekannten falle die Änderung bis heute nicht auf, was sie aber nicht störe, im Gegenteil: "Eigentlich macht mich das fast noch glücklicher."
Lunchtime-Procedures
Die Vorteile minimaler Eingriffe: Sie lassen sich schneller durchführen als Operationen, sind vergleichsweise risikoärmer, ziehen keine Ausfallszeit nach sich und sind außerdem erschwinglicher.
Die Kosten für einen permanenten chirurgischen Eingriff belaufen sich auf 5000 bis 10.000 Euro. Der Heilungsprozess kann sich mitunter ein Jahr lang hinziehen. Unterspritzungen hingegen dauern keine 15 Minuten. Je nach Qualität und eingesetzter Menge kosten sie zwischen 300 und 500 Euro.
Durchführen lässt sich das Prozedere zwischendurch in der Mittagspause, meist ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. "Lunchtime-Procedures" nennt das die Hautärztin Kerstin Ortlechner. Dafür hält das Ergebnis aber auch nur eine gewisse Zeit und muss – der Zeitpunkt hängt von der Art des Eingriffs ab – irgendwann erneut vorgenommen werden.
Der Bereich der ästhetischen Dermatologie sei durch die Pandemie "stark gewachsen", sagt Ortlechner. Weil sich viele mehr mit sich selbst, der eigenen Gesundheit, dem Aussehen beschäftigt und dabei festgestellt hätten, "was man verbessern könnte". Auf Zoom und Selfies bertrachte man sich aus Perspektiven, aus denen man sich normalerweise nicht sehe. "Und wenn man schon nicht auf Urlaub fahren oder ein neues Kleid ausführen konnte, hat man etwas anderes gemacht."
Die Industrie boomt
Dabei boomt die Schönheitsindustrie nicht erst seit Corona. Jahr für Jahr wird mehr gespritzt, gelasert und geliftet. Über elf Millionen chirurgische Eingriffe rund um den Globus zählt die Internationale Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (ISAPS) in ihrem aktuellsten Bericht für das Prä-Corona-Jahr 2019.
Das ist ein Anstieg von über sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dazu kommen noch weitere fast 14 Millionen nichtchirurgische und kosmetische Verfahren. Alleine die Gesichts- und Kopfbehandlungen nahmen dabei um mehr als 13 Prozent zu.
Diese Zahlen dürften noch wesentlich höher sein, denn vieles wird erst gar nicht erfasst – auch in Österreich nicht, da in der Beauty-Branche keine Meldepflicht herrscht. Hierzulande gehen Schätzungen von mehr als 50.000 Operationen pro Jahr aus. Die hiesige Ärzteschaft sprach in einem ORF-Bericht vom vergangenen Sommer von einem Kundschafts-Plus von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Männer und Teenager
Auch die Zahl der männlichen Patienten stieg zuletzt. Sie liegt laut der "Österreichischen Gesellschaft für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie" bei 15 bis 20 Prozent. Die Österreicher präferieren demnach Eingriffe rund um die Augenpartie, Fettabsaugungen und Brustoperationen (Vergrößerungen und Reduktionen). Damit entsprechen die heimischen Trends weitgehend jenen im Rest der Welt.
Wie groß das Repertoire der plastischen und ästhetischen Medizin inzwischen ist, lässt sich vor allem in den USA beobachten: Das Land ist Spitzenreiter bei den nichtinvasiven Techniken, die durch minimale Handgriffe größtmögliche Veränderungen versprechen.
Durch Corona stieg die Zahl der Botox-Anwendungen im Jahr 2020 laut der Plastic Surgery National Databank noch einmal um 54 Prozent. Und die Klientel wird dabei immer jünger. Rund eine Viertelmillion amerikanischer Teenager zwischen 13 und 19 Jahren begibt sich inzwischen jährlich in eine Schönheitsklinik.
Die Nachfrage nach plastischer Chirurgie sei bei Jugendlichen "dramatisch" gestiegen, bilanziert die Vereinigung der US-Schönheitschirurginnen und -chirurgen in ihrem jüngsten Bericht.
Wo die Trends entstehen
Sie führt diese Entwicklung vor allem auf soziale Netzwerke wie Instagram zurück: "Der durchschnittliche Millennial macht im Laufe seines Lebens über 25.000 Selfies, was astronomisch ist und einer der Hauptgründe für das geringe Selbstwertgefühl in dieser Altersgruppe."
Früher seien die Frauen mit einem Playboy-Heft in seine Praxis gekommen und hätten gesagt: "So möchte ich aussehen!", erzählt der New Yorker Chirurg Jeremy Nikfarjam. Heute kämen sie mit ihren Smartphones und zeigten auf Accounts der Influencer, denen sie auf Social Media folgen.
Doch es ist nicht Amerika, sondern ein anderes Land, das die Liste mit den meisten vorgenommenen Schönheitsoperationen anführt: Brasilien. Im größten Staat Lateinamerikas gilt der Körper nach wie vor als Statussymbol und Mittel für den sozialen Aufstieg. Pro Jahr finden hier 1,6 Millionen chirurgische Eingriffe statt.
Gefährlicher Butt Lift
Den Boom begründet hat der prominente Chirurg Ivo Pitangyi, der Rio de Janeiro bereits in den 1970er-Jahren zum Hotspot für Stars auf der Suche nach plastischer Optimierung machte. Die Schauspielerinnen Sophia Loren und Brigitte Bardot sollen sich ebenso in seine Hände begeben haben wie der Formel-1-Fahrer Niki Lauda nach seinem schweren Unfall 1976.
Der 2016 verstorbene Pitangyi begründete auch den mittlerweile internationalen Trend des Brazilian Butt Lifts, kurz BBL: Dabei wird Eigenfett in den Po injiziert, was die Konturen verändert und eine neue Form oder Vergrößerung bringt. Schon lange vor dem amerikanischen Realitystar Kim Kardashian galt ein praller "Bumbum", wie der Hintern in Brasilien genannt wird, als Sexsymbol. Nirgendwo sind die Bikinitangas knapper als an den Stränden von Copacabana und Ipanema.
Allerdings gilt der Eingriff als einer der gefährlichsten überhaupt. Es besteht die Gefahr von Fettembolien oder Entzündungen, bei keinem anderen Schönheitseingriff ist die Sterberate derart hoch. Dennoch verzeichnete die Gesäßchirurgie zuletzt das höchste Wachstum unter allen operativen Behandlungen rund um den Globus. Videos von operierten Hintern verhalfen dem BBL auf der Plattform Tiktok zu weltweiter Popularität.
Kein Rezept für Schönheit
Was Menschen in Brasilien, den USA oder Österreich als attraktiv empfinden, sei in höchstem Maße kulturell geprägt, sagt der Soziologe Otto Penz, der sich mit Schönheitsdiskursen und -praktiken beschäftigt. Ein allgemeingültiges Rezept für die Definition von Schönheit gebe es nicht. Sie sei "ein Ergebnis von Prozessen, an denen eine Masse von Menschen beteiligt war, ein Resultat von gesellschaftlichen Entwicklungen".
Diese seien von "visuellen Medien immer stark mitbegleitet" worden, von der Fotografie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zu den sozialen Netzwerken heute. Die letzten "starken Veränderungen" verortet er zu Beginn der Jugendkultur der 1950er- und 1960er-Jahre, als immer neue Trends der Mode-, Film- und Musikwelt von England und den USA aus in die Welt schwappten. Die "Jugendhaftigkeit von Schönheit" nennt Penz diesen Umbruch, der auch das äußere Erscheinungsbild neu definierte.
Natürlich sei die Schönheitsmedizin bestimmten Moden unterworfen, sagt Johann Umschaden, bis 2019 ärztlicher Leiter der Schwarzl Tagesklinik in Lassnitzhöhe bei Graz. Dort operiert der 62-Jährige bis heute. Als er in den späten 1980ern mit Schönheitsoperationen angefangen habe, "war der künstliche Look total in. Dann ging es viele Jahre lang um mehr Natürlichkeit."
Auf minimale Eingriffe setzten vor allem Jüngere, während Ältere zur Chirurgie zurückkehrten: "Die haben bereits einiges ausprobiert, aber stellen irgendwann fest: ,Es reicht nicht mehr.‘" (Anna Giulia Fink, Richard Gutjahr aus Washington, Susann Kreutzmann aus São Paulo, Pia Kruckenhauser, 23.10.2021)