Die Serie von Interviews, die Altkanzler Christian Kern gegeben hat, verführte einige zu dem Schluss, er wolle es noch einmal probieren. Ausgeschlossen ist nichts, doch schien Kern eher abgeklärt.

Tatsache ist jedenfalls, dass zwar die ÖVP durch die Entlarvung des "Systems Kurz" in eine tiefe Selbstfindungskrise gestürzt wurde; dass aber diese Verunsicherung bezüglich der eigenen Identität fast noch mehr für die österreichische Sozialdemokratie gilt. Sie sollte versuchen, das zu klären, abseits irgendwelcher Personalfragen.

Volksparteien wie die Christdemokraten und die Sozialdemokraten haben es fast überall in Europa schwer. Kleinere, neuere Parteien rücken nach und haben das Gesetz des Handelns mehr und mehr an sich gezogen. In Deutschland hat man den Eindruck, dass es eigentlich darauf ankommt, was die Grünen und die FDP miteinander ausmachen werden. In Österreich haben jetzt die Grünen mit dem Coup, Sebastian Kurz zum Rücktritt gezwungen zu haben, das Geschehen weitgehend in der Hand. Auf sie und die Neos kommt es an, ob eine neue sozial-liberale Koalition möglich ist.

In der SPÖ gibt es wenig Anzeichen für eine grundlegende Debatte. Es fehlen dazu auch die Persönlichkeiten. Unter Werner Faymann wurden systematisch alle interessanten, möglicherweise für Faymann gefährlichen Persönlichkeiten beiseitegeschoben bzw. nicht nach vorn gelassen. Das wirkte sich auch auf die Produktion von neuen Ideen, Taktiken und Strategien negativ aus. Nicht umsonst empfahl Altkanzler Franz Vranitzky kürzlich der Parteiobfrau Pamela Rendi-Wagner, erst einmal die eigene Zentrale intellektuell aufzurüsten.

Die SPÖ unter Pamela Rendi-Wagner sollte einen breiten und offenen Diskussionsprozess starten.
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Diskussionsprozess

Die SPÖ könnte jetzt einmal einen breiten und offenen Diskussionsprozess starten oder zulassen, um sich über sich selbst klar zu werden. Sind wir noch die alte Arbeiterpartei? (nur noch sehr bedingt). Sollen wir Hans Peter Doskozil folgen und mit einer "harten Zuwanderungspolitik" plus Ausbau staatlicher Sozialleistungen zu einer dritten rechten Partei werden? (Nationalismus plus Sozialismus sozusagen?) Sollen wir lieber massiv auf Erschließung neuer Wählerschichten durch Einbürgerung von zum Teil hier geborenen Zuwanderern setzen? Sollen wir weiter eine betonte Betoniererpartei (Stichwort Lobautunnel) bleiben? Usw.

Auf jeden Fall müsste sich die SPÖ aber als liberaldemokratische Alternative zum schon nicht mehr sehr verdeckt autoritären Kurz-Kurs präsentieren. Das bedeutet aber, strategisch voll auf eine Ablöse der jetzigen türkis-grünen Koalition durch eine Rot-Grün-Pink-Koalition zu setzen. Diese Variante hat in den letzten Umfragen eine hauchdünne Mehrheit, in Deutschland wird sie demnächst die Regierung bilden. Es soll in der SPÖ Überlegungen geben, und zwar ganz oben, den Juniorpartner in einer Koalition mit der ÖVP (ohne Kurz) zu bilden. Damit wäre der Führungsanspruch aufgegeben.

Türkis-Grün wird noch eine Weile weitertun, irgendwann wird Kurz versuchen, wieder in die Kanzlerposition zurückzukehren, und dann ist es aus mit dieser Koalition. Die Zeit bis dahin sollte die SPÖ damit verbringen, ihre geistige Lebendigkeit und Zukunftstauglichkeit mit einem spannenden Diskussionsprozess wiederzugewinnen. (Hans Rauscher, 22.10.2021)