Die Autorin Ilse Aichinger, aufgenommen 2001.

Foto: Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich

Blick in die Ausstellung im Stifterhaus.

Foto: Land OÖ/Ehrengruber

Anfang November würde Ilse Aichinger ihren 100. Geburtstag feiern, wäre sie nicht 2016 verstorben. Das Stifterhaus in Linz schaut aus diesem Grund auf die Beziehung der Autorin zur Stadt, in der sie geboren wurde. Das grüne Märchenbuch aus Linz heißt die Ausstellung. Besagtes Märchenbuch nimmt in den späten Kindheitserinnerungen Aichingers eine wichtige Rolle ein, wenn sie darüber schrieb, wie einst ihre Eltern den Zwillingsschwestern Märchen frei vortrugen. Diese Märchen hätten Aichingers Schreiben geprägt, ist sich Kuratorin Christine Ivanovic sicher. Denn einerseits bekam sie so – lange vor den prägenden Schrecken des Nationalsozialismus – Geschichten von Tod und Mord zu hören, aber auch die Stellen, wo sich Sprache dem geschilderten Grauen widersetzt. Hier hätte Aichinger gelernt, in der Sprache widerständig zu sein, bei Formulierungen genau aufzupassen, sich mit Worten aufzulehnen.

Das Märchenbuch hat sich nicht im Nachlass erhalten. Dafür ist der Ausstellungsraum mit grünem Samt ausgeschlagen. Herzstück der Schau sind Stelen mit den 19 Beiträgen Aichingers für das "Literarische Jahrbuch" der Stadt. Dieses war unter den Nazis gegründet und wieder eingestellt worden. Bei der Neugründung 1951 lag die Redaktion zwar in denselben Händen, erstaunlicherweise suchte aber der Herausgeber Karl Kleinschmitt den Kontakt zur mütterlicherseits jüdischen Aichinger, die mit Die größere Hoffnung schon einen ersten großen Erfolg verbucht hatte.

Veränderungen nachverfolgen

Zwar hegte sie zuerst in einem handschriftlichen Brief Bedauern, "als ich nichts Unveröffentlichtes zur Verfügung habe". Aber Kleinschmitt ließ nicht locker. Mit Erfolg, die folgenden Beiträge dokumentierten Veränderungen in Aichingers Werk bis in die 70er.

Wie die Schau deutlich macht, ist Aichinger keine politische Autorin platter Botschaften. Ob in Prosa oder Lyrik: Sie spielt gewitzt bis absurd mit Ereignissen. Nicht das langsame Versinken ihres Wohnhauses an sich interessiert Aichingers Hauptfigur in der Kurzgeschichte Wo ich wohne (1963). Das wahrhaft Verrückte an der Szene ist: Keiner außer ihr findet das Verschwinden im Boden seltsam, alle tun, als wäre das normal. Wer dächte da nicht an das Betragen der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung, während Juden von den Nationalsozialisten massakriert wurden?

Familienverhältnisse

Ivanovic arbeitet seit vielen Jahren zu Aichinger. Der Bezug Aichingers zu Linz sei bisher kaum beachtet worden, meint sie. Warum? "Linz ist Provinz", daher die Ignoranz. Die größte Überraschung der Recherchen zeigten sich für sie denn auch in Bezug auf Aichingers Eltern, denen jeweils eigene Bereiche in der Ausstellung gewidmet sind. Ludwig Aichinger trieb die Familie mit seiner "Büchermanie" fast in den Ruin, weswegen die Mutter ihn, als die Töchter noch klein waren, vor die Wahl stellte: sie oder die Bücher. Berta Aichinger war Jugendamtsärztin, die sich in Linz sehr verdient gemacht hatte und nach der Scheidung mit den Töchtern nach Wien zog.

Die Ausstellung will die Schwellenangst abbauen, Ilse Aichingers Texte zu lesen. Neugierig macht sie auf jeden Fall, etwas trocken bleibt sie trotz zwei Hörstationen zwischen Manuskripten in Klarsichthüllen, Fotos und Korrespondenz aber auch. (Michael Wurmitzer, 23.10.2021)