Wählen, wie es in Schrattenberg der Brauch ist: Schon die Großmutter hat Herta Wolf die Treue zur ÖVP mitgegeben. Doch jetzt zweifelt sie erstmals: "Irgendwie geht der Kurz auch nicht mehr."
Foto: Christian Fischer

Herta Wolf hat – zum ersten Mal in ihrem Leben – zu zweifeln begonnen. Sie halte den gestürzten Kanzler zwar nicht für einen schlechten Menschen, "und dass er korrupt ist, kann ich mir nicht wirklich vorstellen". Außerdem sei immer viel Neid im Spiel, wenn einer erfolgreich ist, gibt sie zu bedenken. "Doch irgendwie", sagt Wolf, "geht der Kurz auch nicht mehr."

Was laut Umfragen bereits zigtausende Menschen vollzogen haben, ist für die Pensionistin ein hartes Stück Emanzipation von der eigenen Vergangenheit. Schon seit Großmutters Zeiten hält ihre Familie der ÖVP die Treue – ganz so, wie es in Schrattenberg, wo sie einst den Greißler geführt hat, der Brauch ist.

Im ohnehin satt schwarz oder – je nach Gusto – türkis gefärbten Niederösterreich stechen die Ortschaften im nordöstlichen Weinviertel noch hervor. In Wolfs Heimatdorf regiert die ÖVP mit einer Mehrheit von 79 Prozent. Dagegen erscheinen die 64 Prozent von der letzten Nationalratswahl fast schon läppisch.

Weinviertler Idylle an der Grenze zu Tschechien: Politisch hat es hier die ÖVP gemütlich. In Schrattenberg regiert sie mit 79 Prozent.
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Wenden sich die Anhänger von ihrem gestrauchelten Helden ab? Die Suche nach Gesprächspartnern verläuft nicht friktionsfrei, mancher Bürgermeister der Umgebung gibt dem STANDARD einen Korb. Ein Vertreter der sonst redseligen Zunft hilft am Vortag noch mit Tipps für die Reportage aus, um am nächsten Morgen plötzlich abzusagen. Freunde in der Umgebung hätten ihm erzählt, "dass Sie nicht schreiben, was gesagt wird", erklärt der Ortschef. Wer denn da Rufmord betreibe, obwohl der Autor noch nie zur Recherche in dieser Gegend war? "Rufmord ist das, was ihr mit dem Kurz macht", kommt es retour.

Johann Bauer hat keine Berührungsängste. Aufhalten lässt sich Schrattenbergs Bürgermeister nur von einer Dame, die ihn vorm Gemeindehaus abpasst – "ein Amtsgeschäft auf der Straße", wie er sagt. Strahlender Sonnenschein taucht die Felder und Rebstöcke der umliegenden Hügel in alle Gelb- und Brauntöne, die der Herbst bietet, und auch Bauer ist frohen Mutes. Eben hat er die Weinlese abgeschlossen, "da zeigt sich der Erfolg eines ganzen Jahres". Geht in den Kellern nichts mehr schief, werde es ein guter Jahrgang.

Was der Stammtisch sagt

Auch Enttäuschung mache sich dieser Tage im Dorf breit – aber anders, als man im fernen Wien vermuten möge. Der Großteil ärgere sich über die Art und Weise, wie Sebastian Kurz mitgespielt werde, erzählt Bauer: "Ich darf aus Datenschutzgründen nicht einmal eine Geburtstagsliste anschlagen, doch dann landen private Chats in den Medien, ehe sie noch der Anwalt der Betroffenen kennt."

Zum Inhalt der Vorwürfe gegen Kurz sagt Bürgermeister Bauer wenig, die Art und Weise stößt ihm aber sauer auf: "Ich darf aus Datenschutzgründen nicht einmal eine Geburtstagsliste anschlagen, doch dann landen private Chats in den Medien."
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Und der Kern der Vorwürfe? "Darüber ist am Stammtisch nicht gesprochen worden", sagt Bauer, "und auch ich tue mir die Thematik nur wenig an. Wenn etwas passiert ist, werden es die Gerichte entscheiden." Das Miteinander habe in der Corona-Zeit zwar selbst hier Risse bekommen, "doch die Unschuldsvermutung zählt am Land noch was".

Der mit blaukariertem Hemd und Jeans adjustierte Mann im Bürgermeistersessel gibt sich nicht nur in physischer Hinsicht zurückgelehnt. Mehrmals lobt Bauer die helfende Hand der Landeshauptfrau, die das Blau-Gelb der Landesfarben lebe, über den obersten Parteichef spricht er eher ungerührt.

Natürlich sei er bei Kurz-Events dabei gewesen, "aber ich wäre auch zu einem Herrn Mayer oder Herrn Huber gefahren". Die Frage, ob die Bundes-ÖVP nun türkis oder schwarz sei, quittiert Bauer mit einem Schulterzucken. Was ein Dorf politisch beschäftige, habe mit den Debatten auf höchster Ebene wenig zu tun.

Den Radfahrern hinten reingeschoben

Der Bürgermeister empfiehlt bei einem Rundgang durch den Ort, nach oben zu schauen. Die schöneren Dächer gleichen einem Fleckerlteppich aus alten und neuen Ziegeln, mitunter aber schützen nur Planen vor dem Regen. Vor vielen Fassaden stehen Leitern und Kräne. Wer auf der Straße ein paar Worte wechseln will, wird ständig durch das Kreischen der Metallschneider unterbrochen.

Im Juni entluden die Ausläufer jenes Tornados, der jenseits der tschechischen Grenze für Tod und Verwüstung gesorgt hat, faustgroße Hagelkörner auf Schrattenberg. Seither sind Handwerker omnipräsent, bis Weihnachten soll endlich alles repariert sein.

Verfängliche Chats? Mein Gott! "Er hat halt seinen Spaß gehabt", sagt ein Handwerker, der in Schrattenberg Dächer repariert: "Sind Sie denn perfekt?"
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"Wirtschaftlich", sagt ein Dachdecker, der sich, an seinen Transporter gelehnt, eine Pausenzigarette anraucht, "habe ich mich saniert" – und das, obwohl es mit jeder Regierung weiter bergab gehe. Sein Groll richtet sich aber nicht gegen die ÖVP, sondern gegen den grünen Koalitionspartner. "Den Radlfahrern wird alles in den Oasch geschoben", schimpft er: "Zahlen die vielleicht den höheren Benzinpreis?"

Der Kurz hingegen sei nicht zuwider, und die Chats – mein Gott: "Er hat halt seinen Spaß gehabt. Sind Sie denn perfekt?" Den Ex-Kanzler unterscheide vom Rest nur, "dass sie ihm draufkommen seien. Der Nächste tut genau dasselbe. Politik ist wie ein Hamsterrad."

Jeder hat Dreck am Stecken

"Der Bua hat das ganz gut gemacht", pflichtet ein älterer Herr vor einem Schuppen gegenüber der Feuerwehr bei, "er hat stets vernünftig gesprochen." All jenen, die – wie diese Frauen von der Opposition – Kurz zu verdrängen versuchten, empfiehlt er Besinnung anhand der Zehn Gebote: "Gemmas durch und schauen, wer noch keines verletzt hat! Man muss ja auch verzeihen können."

Ob das auch für Sünden wie Korruption gelte? Die schweren Vorwürfe glaube er nicht, sagt der 80-Jährige, doch dass etwa bei Postenvergaben immer schon geschoben werde, wisse er aus seiner Zeit im Staatsdienst: "Das wird niemals anders rennen."

Zwei Gassen weiter ertönt Widerspruch. "Mir war der Kurz von Anfang an suspekt", sagt ein Passant in Arbeitskluft: "Schon meinen Kindern habe ich gesagt, der wird an Arroganz und Präpotenz zugrunde gehen." Ein Dissident in schwarz-türkisen Reihen? Fehlanzeige. Der Mann entpuppt sich als der einzige Sozialdemokrat unter 15 Gemeinderäten.

Dieses Muster zieht sich durch das ganze Dorf. Böse Worte verlieren über Kurz nur jene, die ihn schon vor Auffliegen der Affären nicht gewählt haben. ÖVP-Anhänger hingegen führen Zweifel an den Anschuldigungen oder den eigenen schlechten Informationsstand ins Treffen – und vor allem eines: In der Politik habe doch ein jeder Dreck am Stecken.

Politiker in ein Packl stecken

"Steckt man alle Politiker in ein Packl und schüttelt sie ordentlich durch, kommt am Ende immer genau dasselbe raus – egal wer es ist", tönt es an der Schank eines Gasthauses unweit von Schrattenberg. Die Seniorchefin lässt sich hier, im Dorfwirt Schleining von Kleinschweinbarth, auch nach 60 Arbeitsjahren nicht die Teller und Gläser aus der Hand nehmen. Gerade am Mittwoch ist Einsatz gefragt. Das Mittagsmenü – Schnitzel mit Nudelsuppe und Salat um sieben Euro – sorgt für volles Haus. Die Nachfrage nach Silberfolie zum Einpacken zeugt von üppigen Portionen.

Seniorchefin mit Lebensgefährtem im Dorfwirtshaus von Kleinschweinbarth: Er fühlt sich von Kurz für deppert verkauft, sie sieht keine Beweise gegen den Ex-Kanzler.
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Zum Politisieren bleibt dennoch Zeit. Sie habe dem Kurz immer gerne zugehört, sagt die ehemalige Wirtin, "der ist nicht so ein Schreier". Auf eine Diskussion über die konkreten Anschuldigungen will sie sich nicht einlassen, da fehle ihr der Einblick. "Aber ich mag es nicht, wenn gegen einen so gestirlt wird", sagt sie: "Wer gewählt ist, soll fünf Jahre arbeiten."

Widerrede gibt es in Gaststube nicht viel, dafür aber einen Einspruch aus nächster Nähe. "Ich finde es traurig, dass die Durch-und-durch-ÖVPler immer noch dran glauben", sagt ihr Lebensgefährte mit süffisantem Unterton: "Der Kurz verkauft die Leut für deppert." Über die Meinung des Mannes brauche man sich nicht zu wundern, wo der doch bei den Verkehrsbetrieben im roten Wien gearbeitet habe, kontert die Partnerin: "Ist beim Kurz denn vielleicht schon was bewiesen?"

Die Regierung einfach wegschalten

"Ich weiß nicht, wem ich bei all den Vorwürfen glauben soll", sagt die Schrattenbergerin Herta Wolf, als sie ein Paket Dämmplatten über die Gasse schleppt: "Ich denke mir, die sind alle gleich." Früher, nach dem Krieg, habe es noch vertrauensvolle Politiker gegeben, habe ihr die Mutter einst erzählt. Aber heute? "Da kommt nichts Besseres nach."

Die Ex-Lebensmittelhändlerin bleibt letztlich die einzige ÖVP-Wählerin auf dem Rundgang, die ein Stück von Kurz abrückt – wobei: Enttäuscht sei sie weniger vom einstigen Jungstar persönlich als darüber, dass die Regierung einfach nicht an einem Strang ziehe. Am liebsten tue sie mittlerweile eines: "Den Fernseher umschalten, wenn die Nachrichten kommen." (Gerald John, 23.10.2021)