Stimmen im Wertekanon nicht immer überein: Altkanzler Wolfgang Schüssel und Gernot Blümel, ÖVP-Chef in Wien.

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Türkis oder schwarz? Gernot Blümel hat bei seiner Rede in der vergangenen Woche im Wiener Schottenstift zumindest optisch einen gangbaren Weg gefunden, diese Frage zu umgehen: Der Finanzminister, der auch für den schuhlosen Gang in türkisen Socken im Nationalrat bekannt ist, wählte für unten drunter den Mittelweg. Türkis als Basis, mit schwarzem Karomuster.

Dabei gelten die Wiener ÖVP und deren Landesparteichef als Inbegriff des türkisen Pols auf der Farbskala bis Tiefschwarz. Und da geht es viel mehr um die Couleur als um das Kolorit des Parteilogos, um nicht weniger als Werte, Weltanschauung und Politikverständnis.

Und so überraschte Blümel, als er vor Granden der Konservativen – etwa Altkanzler Wolfgang Schüssel oder Ex-Vizekanzler Erhard Busek – und türkisen Jungpolitikerinnen und -politikern über die "christliche Soziallehre", den "bürgerlichen Mittelstand" oder "Konservative" philosophierte. Es sind Begrifflichkeiten, die man in der Farbenlehre der ÖVP ganz klar als ideologisch schwarz verortet. Aber es schien vor allem situationselastische Rhetorik vor den Altvorderen zu sein.

Derzeit agieren Vertreter der Volkspartei offiziell noch so, als gebe es kaum einen Weg zurück von Türkis zur "schwarzen ÖVP". Doch wer in die Partei hineinhört, bemerkt einen gewissen Erosionsprozess – vor allem in den Ländern.

Freilich: Dass die Bundes-ÖVP offiziell wieder von Türkis auf Schwarz wechsle und dabei ihre Politik grundlegend ändere, halte er für ziemlich unwahrscheinlich, sagt der an der Universität Wien forschende Politikwissenschafter Fabio Wolkenstein. Er hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit Europas christlich-sozialen Parteien beschäftigt und dies in seinem im Frühjahr 2022 erscheinenden Buch Die dunkle Seite der Christdemokratie dokumentiert.

Karrierist ohne Ideologie

Teile des ÖVP-Milieus sehen sich seit jeher eher als "schwarz" denn als Teil des Kurz’schen Türkis. Auch Kirchenvertreter stünden hinter der schwarzen Tradition, "sie verabscheuen die Truppe um Sebastian Kurz", sagt Wolkenstein. Nicht erst seit den Chats, in denen ein hoher Kirchenvertreter "niedergemacht" wurde. Dort werde Ex-Kanzler Kurz als "ideologiebefreiter Karrierist ohne moralische Grenzen gesehen".

Kanzler Alexander Schallenberg und Vorgänger Sebastian Kurz
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Eine tatsächliche Rückbesinnung der Partei, eine ideologische, zu den christlich-sozialen Wurzeln, zu einer schwarzen ÖVP, hält Wolkenstein für fast ausgeschlossen. Das sei nicht mehr zeitgemäß. Schon allein aus demografischen Überlegungen. Schwarz sei die Farbe der alten Generation in der ÖVP. "Die Jungen fangen damit wenig an", sagt Wolkenstein dem STANDARD.

In den ÖVP-dominierten Ländern hat man sich ohnehin nie mit der Farbe Türkis anfreunden können. In der Parteihochburg Niederösterreich etwa lebt die ÖVP sowieso auf einem ganz andersfarbigen Planeten. Türkise Politik? Mitnichten. Man sei schon immer blau-gelb gewesen, weder schwarz noch türkis, tönt es aus höchsten ÖVP-Kreisen in St. Pölten. Die Landespolitik habe sehr wenig mit der Bundespolitik zu tun: In Niederösterreich stehe eben das Land zuerst.

Lokale Linie

In Salzburg will die ÖVP die "Wiener Themen" erst gar nicht ansprechen. Wolfgang Mayer hatte den 40. ordentlichen Landeskongress der Salzburger ÖVP am Freitag im Pongauer St. Johann auszurichten. Der langjährige Landesparteigeschäftsführer, nun Generalsekretär und Landtagsklubobmann in Personalunion, gab schon im Vorfeld im STANDARD-Gespräch die lokale Linie vor: "Salzburg first".

Man konzentriere sich auf die eigenen Themen. Und so sah auch die Gästeliste aus: Weder Neo-Kanzler Alexander Schallenberg noch Parteichef Sebastian Kurz sind in den Pongau gekommen. Die Bundespartei war mit Karoline Edtstadler und Martin Kocher vertreten. "Die Salzburger Minister", so Mayer.

Landeshauptmann Wilfried Haslauer ging aber dann doch auf die aktuelle ÖVP-Krise ein. Er warnte ausdrücklich vor einer Spaltung der ÖVP und nannte das Schicksal der Democrazia Cristiana in Italien. Man dürfe sich in Österreich "nicht die politische Mitte herausschießen lassen", sagte er. Auf die Frage, ob Kurz noch eine Zukunft in der ÖVP haben kann, ging Haslauer nicht ein.

Ganz im Westen hat man sich, wie in den anderen VP-geführten Bundesländern, zumindest nach außen hin auch längst wieder vom türkisen Bund in Wien distanziert.

Alte Strukturen

Politikwissenschafter Wolkenstein sieht grundsätzlich ein erhebliches Problem der ÖVP in deren alten Parteistrukturen. Das Konstrukt der ÖVP mit den "multiplen Machtzentren" in den Ländern und Bünden habe Kurz zwar insofern gelöst, als er die Parteimacht an sich gezogen habe. "So etwas ist natürlich nur in einem kleinen Land wie Österreich möglich. In Deutschland ist das undenkbar", sagt Wolkenstein.

Die zentrale Frage sei aber: Was, wenn Kurz nun ausfällt? Wohin wandert dann die Parteimacht? Wieder zurück zu den Ländern und den Bünden? Oder findet sich in der Partei eine Person, die diesen Machtzentralismus weiterführen kann? "Die Truppe um Kurz wird natürlich jetzt alles versuchen, das momentane Machtzentrum zu halten", sagt Wolkenstein.

Ministerin Elisabeth Köstinger und Landeschefin Johanna Mikl-Leitner.
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Sebastian Kurz hatte die Übernahme des Parteivorsitzes bekanntlich an Bedingungen geknüpft: ein Durchgriffsrecht auf Wahllisten, freie Hand für Koalitionsentscheidungen, alleinige Entscheidung über Schlüsselposten in der Partei. Die Landesparteien willigten ein und hielten sich auch mit öffentlich geäußerter Kritik an der Bundespartei zurück – solange Kurz erfolgreich war. Er war der Garant für die Wahlsiege in den eigenen Ländergrenzen.

Dass man die innerparteiliche Macht aber nie wirklich abgegeben hat, habe sich an jenem Wochenende gezeigt, als Kurz als Kanzler zurückgetreten ist. Das sei nur durch den Druck der VP-Länderchefs möglich gewesen, ist nicht nur in der niederösterreichischen ÖVP zu hören.

Migration als Dauerthema

Fritz Plasser, jener Politikwissenschafter, der die ÖVP jahrelang beratend begleitet hat, sagt, es gebe für die ÖVP nur drei Möglichkeiten: Zurück zu christlich-sozialer Identität, zurück zu den Bünden und Interessengruppen – was die Partei weit unter die 20 Prozent zurückwerfen würde. Oder als Ausweg zu einer Umkehr zu einer Partei der Kompetenzen – Stichwort: Wirtschaft –, aber mit Beibehaltung der restriktiven Migrationspolitik.

Damit hatte ja auch schon Schüssel reüssiert, als er und der damalige Innenminister Ernst Strasser mit einer streng restriktiven Asylpolitik einen großen Teil der FPÖ-Wähler ins ÖVP-Lager geholt hatten. Jahre später doppelte Kurz dies auf, als er PR-gerecht die Balkanroute schloss. Auch wenn dies real nie der Fall war.

Die momentanen Erschütterungen in der ÖVP mögen alteingesessene schwarze Politiker aber nicht überraschen: Sie kommen in Wellen, die ÖVP-Krisen. Mal vermeint man, die Partei steige in lichte Höhen hoch, wie es einst Wolfgang Schüssel verhieß. Darauf folgte postwendend die Talfahrt mit Josef Pröll, Michael Spindelegger und Reinhold Mitterlehner. Mit Kurz schnellte die ÖVP, wie einst mit Schüssel, hinauf. Jetzt, rumpelt sie wieder in die Tiefe. Und die ÖVP ist wieder dort, wo sie schon öfter war: am Anfang.

Taktiker in Schwarz

Es erinnert heute tatsächlich einiges an die Jahre der Schüssel-ÖVP, als die Partei in den Jahren vor 2000 im Begriff war, zu zerbröseln, und sie auf dem Weg der Democrazia Cristiana ins politische Nirwana schien. Schüssel rettete die ÖVP durch eine Volte, als er sein Versprechen brach und sich als Drittplatzierter von FPÖ-Chef Jörg Haider zum Kanzler machen ließ.

Wenig später, nachdem er die FPÖ erledigt hatte, stieg er zum begnadeten Taktiker und großen ÖVP Führer auf – bis er tief fiel und auf der Abgeordnetenbank im Parlament Platz nehmen musste.

Im STANDARD war in diesen Zeiten zu lesen: "Der Kanzler ist einfach zu perfekt, zu glatt, ohne wirklich erkennbare Kommunikationsfehler. Das macht ihn unnahbar und unheimlich. Unheimlich auch deshalb, weil er es mit seiner Rhetorik schafft, zu vermitteln, er habe mit all dem Unbill der letzten Regierungsjahre nichts, aber schon gar nichts zu tun. Er macht glauben, er versuche selbstlos, ja fast madonnenhaft unschuldig, Politik für das Allgemeinwohl zu machen, aber irgendwelche Unholde durchkreuzten ständig seine hehren Ziele."

Ähnliches konnte bis vor kurzem über Kurz und die türkise Clique geschrieben werden.

Und noch eine bemerkenswerte Passage findet sich im Archiv: ein Hinweis auf die christlich-soziale Tradition der ÖVP. Da erörterte der damalige Generalsekretär Reinhold Lopatka im STANDARD-Interview: "Kennen Sie einen Menschen der noch nie gelogen hat?" Und weiter: "Wir Katholiken haben notfalls einen großen Vorteil: Wir können beichten gehen." (Walter Müller, Sebastian Fellner, Oona Kroisleitner, Thomas Neuhold, 23.10.2021)