In der ÖVP hat das große Farbenmischen begonnen. Wie türkis kann sie bleiben, wie viel Schwarz soll wieder beigemengt werden? Es sind existenzielle Fragen, die die künftige Ausrichtung der Volkspartei betreffen und die sie in den kommenden Wochen beantworten muss. Aktuell haben viele in der Partei das Gefühl, weder mit noch ohne Sebastian Kurz erfolgreich sein zu können. Die ÖVP befindet sich in einer Situation, die sich nicht einfach auflösen lässt.

Auf eines dürften sich Türkise wie auch Schwarze aber wohl einigen können: dass die ÖVP die starke konservative Kraft sein soll, breit aufgestellt in der Mitte des Landes.

Von jeher tragen Konservative vor sich her, für Verlässlichkeit und Werte zu stehen. Kurz selbst ist kein klassischer Konservativer. Er hat bürgerliche Politik mit Inhalten der freiheitlichen Rechtspopulisten vermengt. Schon in dem frühen Positionspapier des "Projekt Ballhausplatz" war zu lesen, wie die Türkisen sich das vorgestellt hatten: "FPÖ-Themen, aber modern." Die blauen Vorstellungen zu Migration sollten von der neuen ÖVP salonfähig präsentiert werden. Der pure Populismus aber achtsam argumentiert. Denn eines war auch für Kurz und seine Vertrauten immer klar: Die ÖVP ist eine staatstragende Partei, sie muss sich auch so gerieren.

Die ÖVP steht am Scheideweg.
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Das geriet unter der Kanzlerschaft von Kurz zur permanenten Gratwanderung. Und mittlerweile wurde dieser Vorsatz völlig verworfen. Seit Wochen attackieren türkise Politikerinnen und Politiker die Justiz, die gegen sie ermittelnde Staatsanwaltschaft, den parlamentarischen U-Ausschuss, Medien und nun auch die Meinungsforschung. Mit den Ermittlungen gegen Kurz und sein Umfeld fielen die Hemmungen. Es ist das gute Recht von Beschuldigten, sich zu verteidigen. Eines ist das Verhalten der Türkisen aber ganz gewiss nicht mehr: staatstragend.

Frontsoldat

Aktuell ist es vor allem Andreas Hanger, der schwarze Niederösterreicher und türkise Frontsoldat, der ausgeschickt wird, um Stimmung zu machen. Diese Woche hat er in einem wilden Rundumschlag versucht, die SPÖ in den Korruptionssumpf zu ziehen. Er vermischt dabei alte Wahrheiten mit falschen Anschuldigungen oder schwer überprüfbaren Fakten. Die Absicht ist klar: Hanger will ablenken. Das mutet manchmal geradezu lächerlich an, ist aber brandgefährlich. Hanger sät Misstrauen – gegen die Justiz, gegen Meinungsforschung und Medien, letztlich gegen die Politik im Allgemeinen: Ihr sei nicht zu trauen.

Hanger tut dies nicht aus eigenem Antrieb und ohne Rückendeckung. Er hat einen Auftrag. Von der Partei. Deren Chef ist nach wie vor Kurz, der sich offenbar auf einem Kreuzzug befindet.

So gerät die ÖVP aber immer tiefer in jenen Sumpf, den sie selbst bewässert hat. Eine Sofortmaßnahme zur Ehrenrettung der Volkspartei wäre einfach: Die mächtigen Schwarzen müssten dafür sorgen, dass die durchschaubaren Angriffe auf den Rechtsstaat und seine Institutionen eingestellt werden. Die Landeshauptleute sind stark genug, um die Türkisen einzubremsen. Glücklich waren sie über die Attacken auf die Säulen der Demokratie ohnedies noch nie.

Die ÖVP steht am Scheideweg. Die Reise wird richtungs- und wahlentscheidend. Verantwortung und Verlässlichkeit müssen aber jedenfalls ins Gepäck, will die ÖVP auf lange Sicht noch ernst genommen werden. (Katharina Mittelstaedt, 23.10.2021)