Maximilian Schaffgotsch und Terrier Pino im Salon auf Schloss Niederleis im Bezirk Mistelbach, Niederösterreich.

Foto: Regine Hendrich

Von Ahornbäumen gesäumte Zufahrt: Das Schloss steht für Besichtigungen offen, auch Konzerte und Bälle finden hier statt.

Foto: Regine Hendrich

Eine knappe Autostunde von Wien entfernt, vorbei an in herbstliche Farben getunkten Weinviertler Hügeln, an feilgebotenen Kürbissen und Wachteleiern, sitzt der Eigentümer von Schloss Niederleis in seinem Salon und wählt folgendes Bild, um den Adel in Österreich zu beschreiben: Die einstigen hohen Familien und ihre Nachfahren seien wie "ein alter knorriger Baum, der von Blitzen getroffen und Stürmen zerzaust exponiert in der Landschaft steht". Dieser Baum trage dürre, aber auch frische grüne Äste, seine Wurzeln reichten besonders tief, und insgesamt biege er sich "traditionell weniger schnell nach den Windrichtungen des Zeitgeistes".

Maximilian Schaffgotsch, 54 Jahre alt, lebt hinter den alten Gemäuern seiner Familie, einer ehemaligen Fliehburg mit Wassergraben aus dem 12. Jahrhundert. Hier wurde er geboren, hier lebt er mit seiner Frau, vier Kindern und seiner Mutter. Im Wohnbereich riecht es nach Kerzen, der Wind zieht durch die alten, hohen Fenster. Die Herrschaft wurde im Dreißigjährigen Krieg verwüstet, dann verkauft an das Stift Heiligenkreuz, ehe sie 1867 in den Besitz des Grafen Schaffgotsch wechselte. Dessen Ururenkel trägt seinen Nachnamen, das Führen des Titels ist ihm per Gesetz verboten.

Rund 180 Familien mit 11.000 Mitgliedern leben laut Schätzungen in Österreich. Die Frage nach der gesellschaftspolitischen Relevanz des "Blauen Blutes" stellt sich dieser Tage einmal mehr, seitdem Alexander Schallenberg die Amtsgeschäfte als Bundeskanzler übernommen hat. Der Diplomat ist der erste Kanzler aus einer einst adeligen Familie seit Kurt Schuschnigg, der von 1934 bis 1938 katholisch-autoritär regierte. Schallenberg entstammt einem alten Adelsgeschlecht aus dem Mühlviertel. Von der Burg, die rund 30 Autokilometer nördlich von Linz liegt, sind nur mehr Reste übrig. Er hat im Außenministerium Karriere gemacht, wo Beamte von hocharistokratischem Geblüt traditionell hohe Posten einnehmen.

Adelige Kontinuität

Im Mittelalter war der Adel reich und geradezu allmächtig. Mit der Zeit verlor er die wichtigsten Privilegien. Ausgerechnet Bruno Kreisky holte ihn in der Zweiten Republik verstärkt in die Politik zurück. Dem sozialdemokratischen Kanzler wird eine tiefe Abneigung gegen die ÖVP, aber ein Hang für den Adel nachgesagt. Er brauche fürs internationale Parkett eben Leute, die ordentlich mit Messer und Gabel essen könnten, ist von ihm überliefert. Einige Verbindungen zwischen Politik und Adel bestehen auch heute. Selbst die nicht für ihre Sympathien für die Monarchie bekannte FPÖ pflegt seit geraumer Zeit den Austausch mit dem St.-Georgs-Orden, der sich als "christlich, europäisch, elitär" bezeichnet.

Ulrich Habsburg-Lothringen, ein Verwandter des letzten Kaisers Karl, kämpfte einst für die Aufhebung des Verbots der Präsidentschaftskandidatur für Mitglieder ehemals regierender Häuser. Es fiel tatsächlich. Aktuell sitzt im Nationalrat nur ein Politiker aristokratischer Herkunft: der Neos-Abgeordnete Douglas Hoyos-Trauttmansdorff. Er trägt gleich zwei Adelsgeschlechter im Namen. Laut eigenem Bekunden haben er und seine Eltern aber in keinerlei Hinsicht "Bezugspunkte oder Verbindungen" zu diesen Teilen der Familiengeschichte:"null", wie der pinke Generalsekretär sagt.

Faszination Adel

Der Adel fasziniert – nicht nur in Österreich, wo der Graf am Land immer noch "der Herr Graf" ist. Auch im Rest der Welt widmet sich ein eigener Mediensektor den Stars und Prominenten, von denen ein guter Teil hohen Familien entstammt. Das aristokratische Leben diene oftmals und gerade in Krisenzeiten als "gedanklicher Fluchtpunkt", erklärt der Historiker Hannes Leidinger, der auf Adelsgeschlechter spezialisiert ist: "Das Monarchistische ist Teil der österreichischen Volkskultur."

Maximilian Schaffgotsch kommt dem Klischee, das oftmals bemüht wird, zumindest nahe, von seinem Habitus, aber auch von seiner Sprache her: Er spricht in druckreifen Sätzen, ist zuvorkommend und stets höflich, ohne betulich zu wirken. Schaffgotsch trägt eine orange Cordsamthose, Manschettenknöpfe an den Hemdärmeln, darüber ein dunkelgrünes, dezent gemustertes Jackett. Er ist Jurist, hat einen Master aus Cambridge und eine Kanzlei in der Wiener Innenstadt. Ein konservativer Kleidungsstil und eine gute Bildung sind jedoch kein rein adeliges Alleinstellungsmerkmal.

Bürgerlich versus Adel

Die Abgrenzung zu wohlhabenden Bürgerlichen passiert vor allem über den Familienbesitz. "Man will mit Blick auf das, was die Vorfahren geleistet haben, nicht der Letzte sein, der das Licht abdreht", beschreibt Schaffgotsch den Bezug. Er ist Jäger, Waldbesitzer und vertritt unter anderem Grundbesitzer in Prozessen gegen eine Tierrechtsorganisation. Dass er sich auf Liegenschaften-, Umwelt-, Naturschutz- und Stiftungsrecht spezialisiert hat, ist freilich kein Zufall.

Die ehemaligen "Von"-und-"Zu"-Familien zählen zu den größten Grundbesitzern der Republik. Sie besäßen zu einem wesentlichen Teil fast die Hälfte des privaten Anteils an Österreichs Wäldern, sagt der Historiker Leidinger. "Wer in irgendeiner Form mit Forstwirtschaft zu tun hat, der kommt an diesen Familien nicht vorbei." Der große Rest sei in der Hand von Kleinbesitzern.

Verglichen mit anderen Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns sei hierzulande ein tiefgreifender Wandel ausgeblieben. Bei den Eigentumsverhältnissen habe sich bis heute nur wenig verändert. 400 von 1700 Burgen und Schlössern in Österreich werden laut Leidinger von Adelsabkömmlingen bewohnt und bewirtschaftet. Sie wurden inzwischen teilweise für Tourismus, Gastronomie und Kultur geöffnet – auch weil ihre Erhaltung kostspielig ist. Die Landwirtschaft sei allerdings nur bedingt kapitalisiert worden, sie werde vorwiegend für Standesrepräsentation genützt, erklärt Leidinger. "Natürlich sind unsere Familien eng verbunden mit der Land-und Forstwirtschaft", sagt Felix Montecuccoli, Präsident der Land- und Forstbetriebe Österreich und Sohn aus der gleichnamigen Adelsfamilie mit Sitz im niederösterreichischen Prinzersdorf. "Die meisten von uns gehen aber anderen Berufen nach: Es befinden sich mehr Ärzte, Architekten, Schauspieler, Mechaniker und Autohändler unter uns, als in der Landwirtschaft tätig sind."

Traditionen und Werte

"Die Familie", führt Schaffgotsch aus, "wird nicht als Gemeinschaft von Zeitgenossen, sondern als vertikale Gemeinschaft von Generationen empfunden." Das Wissen, dass jeder Einzelne "nur ein kleines Rädchen im großen Getriebe ist", sei stark ausgeprägt. "Das mag in unserer schnellen digitalen Welt wie eine Parallelwelt erscheinen." Auch andere Wertvorstellungen halten diese Welt zusammen, selbst dann, wenn sie in der Realität nicht immer von allen gelebt werden: enger Zusammenhalt, Bescheidenheit, Religiosität etwa. Gepflegt werden diese Traditionen auch in Vereinen wie dem St. Johanns Club. Er ist der größte österreichische Herrenklub seiner Art.

An die 1000, in einem roten Büchlein aufgelistete Mitglieder zählt er. Hier werden Kontakte geknüpft, Vorträge gehalten, Bridgerunden organisiert. Inzwischen gehören diesen Klubs nicht nur Ex-Adelige an. Das sei alles beweglicher geworden, sagt Schaffgotsch, "und das ist auch gut so". Montecuccoli vergleicht die Vereine mit Stammtischrunden im Wirtshaus: "Ich sitze an beiden Tischen, mit dem einzigen Unterschied: An einem trage ich Krawatte, am anderen nicht." (Anna Giulia Fink, 23.10.2021)