Angeschmiert: Markus Meyer (li.) kommentiert als "Boson" ein triviales Melodram in Schwarz-Weiß.

Foto: Marcella Ruiz Cruz

Es mussten etliche Jahrhunderte vergehen, bis auf dem Theater endlich die Ständeklausel fiel: Fürsten und Könige räumten unwillig das Feld. An ihrer statt betraten die Vertreter des Bürgertums die Bühne: ehrbare Leute wie du und ich. Zu ihrer Verteidigung muss gesagt werden, dass sie häufig genug nicht weniger verhaltensauffällig waren als ihre aristokratischen Vorgänger; weniger schrill vielleicht, dafür wahlweise von der Syphilis geplagt oder schlicht von bourgeoisem Wahnsinn umjubelt.

Der jüngste Profiteur einer solchen Entwicklung ist das überhaupt kleinstmögliche Teilchen, das menschliche Anschauungskraft feststellen kann. Es ist das "Higgs Boson". Dieses fristet eine höchste ungewisse, streng subatomare Existenz, wirkt und schwirrt in alle Richtungen und fällt, kaum ausgemacht, auch schon wieder auseinander. Es hält sich bevorzugt im Inneren sogenannter Teilchenbeschleuniger auf, etwa im "Large Hadron Collider" am CERN in Genf. Da fügt es sich praktisch, dass die tragische Komödie "Moskitos" der Britin Lucy Kirkwood ebenfalls in Genf spielt.

Und somit gilt es, das Theaterdebüt des "Bosons" (ganz ohne Higgs) auf der Bühne des Akademietheaters anzuzeigen. In der mehlweißen Gestalt von Markus Meyer ist das Teilchen ebenso stabil wie von niederschmetternder Beredsamkeit. Es drückt sich bevorzugt an der Wänden einer Bühnenschachtel herum – ebenso strahlend weiß (Bühne: Jessica Rockstroh) – und wirkt als androgynes, nur für uns Zuschauer sichtbares Helferlein: ein frei schwebender Radikaler, der mit vielen schönen Worten ein bedrückend triviales Melodram kommentiert. Eine Art Komödien-Sterbebegleiter.

Denn zwischen Luton (nahe London) und Genf schwirren nicht nur die Protonen wild herum. Die beiden Katastrophen-Schwestern Alice (Sabine Haupt) und Jenny (Mavie Hörbiger) unterliegen völlig unterschiedlichen Zieh- und Fliehkräften.

Zwei vom selben Schlag

Alice wirkt als Physikerin am Genfer Zentrum für Kernforschung. Gelegentliche existenzielle Verspannungen zaubert sie mit Gymnastik weg. Die deutlich weniger elaborierte Jenny verrichtet Callcenter-Arbeit und wird vor allem von der Erfüllung ihres Kinderwunsches angespornt.

Zwei vom selben Schlag, und doch verschieden wie Sonne (Jenny mit blonden Locken) und Mond (die Haare dunkel fließend). Hörbiger punktet immerhin furios, mit den Balzgesängen einer Gelegenheits-Schnapsdrossel. Haupt hingegen muss sich mit den Verhaltensauffälligkeiten ihres Nerd-Sohnes Luke (Felix Kammerer) schmalen Munds herumschlagen.

Die Family ist so herrlich dysfunktional wie ein ganzer Haufen Quarks. Als Ober-Molekül aber zieht die Königin Mutter (Barbara Petritsch) am Stock ihre entschleunigten Bahnen: eine gewesene Physikerin, die um ihren verdienten Anteil am Forschungserfolg vor unendlich langer Zeit geprellt wurde. Den Nobelpreis heimste ausgerechnet der poly-amouröse Gatte ein!

Petritsch fährt als zum Kampf aufgetakelte Rache-Fregatte aller ehelich Gedemütigten unbeirrt auf Kampflinie, hinein in die Abenddämmerung des Lebens. Bewahrt ihre Königinnenwürde noch dann, wenn unter dem Salz-und-Pfeffer-Kostüm das Produkt ihrer Inkontinenz abfließt. Eine herrliche Figur, alle anderen um Kronen-Höhe überragend.

Der Rest ist demgegenüber von stark überschaubarem Reiz: Die Teilchen fliegen niedrig. Daran vermag auch Regisseur Itay Tirans todschicke Schwarz-Weiß-Ästhetik nichts zu ändern. Die Neu-Schöpfung der Welt will dieses Stück bedeuten. Nach oben, hinauf in den Schnürboden, existiert ein kreisrunder Durchzug. Ein Äpfelchen schwebt herab, damit unser "Boson" (Meyer) auch heute noch kraftvoll zubeißen kann. Die Frage nach den Irrungen und Wirrungen im Physikerinnen-Milieu wird man nicht zur Angelegenheit zwischen Adam, Eva und der Schlange erklären wollen! Eher schon hätte man sich über ein flotteres Komödien-Timing gefreut: über gewaltige Kollisionen im Land der freigesetzten Moleküle. Über Spaltungen innerhalb einer Gesellschaft, über die kein Herrgott im Himmel wacht.

Die Zerfallsprodukte wurden aus Anlass dieser österreichischen Erstaufführung einfach zu wenig beschleunigt. Doch nichts verträgt die Physik der Komödie weniger als Gemächlichkeit. Der Jubel war gleichwohl groß. (Ronald Pohl, 24.10.2021)