Der Tod der französischen Jüdin Sarah Halimi hat Frankreich schockiert – und auch in Israel wurde gegen die Einstufung des Täters als unzurechnungsfähig protestiert.

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Heute wohnt Stella Bensignor in einem anonymen Wohnblock eines anonymen Pariser Vororts. Dessen Namen will die jüdische Französin lieber nicht in der Zeitung sehen: "Man weiß ja nie, was diesen Leuten noch alles in den Sinn kommt."

Es war an einem kalten Märztag, als "diese Leute" Stella Bensignor das erste Mal heimsuchten. Sie brachen in ihr Einfamilienhaus in Romainville östlich von Paris ein, stahlen Kreditkarten, Schmuck, Playstation und einen Scooter. Zum Glück wachten weder Stella noch ihr Mann noch ihre drei Kinder auf. Sie erstatteten Anzeige bei der Polizei. "Als ich darauf eines Morgens zur Arbeit fahren wollte, hatte jemand in riesigen Lettern 'Jude' und 'Israel' in die Türen meines Autos gekratzt", erzählt Stella, und es kostet sie sichtlich Überwindung. "Ich bekam weiche Knie, begann zu zittern. Und als ich den Wagen danach zum Spengler brachte, stellte er fest, dass die Muttern an den Rädern meines Opel Mokka gelöst worden waren."

Ein guter Rat

Das war zu viel für Stella Bensignor. Sie, die in Romainville auf die Welt gekommen und aufgewachsen war, ist mit ihrer Familie in einen weniger gefährlichen Ort umgezogen. Ihr Entschluss stand fest, als ihr ein Polizist sagte, er gebe ihr einen guten Rat – und zwar als Vater, nicht als Gendarm: "Ziehen Sie weg."

Die Bensignors, die bis heute auf die Festnahme der Einbrecher warten, verließen Romainville so schnell wie möglich. "Wir zogen nicht um, wir traten die Flucht an", betont die 52-jährige Französin, die heute in einem Pariser Schönheitssalon arbeitet. Ihre Wohnung befindet sich in einem siebzehnstöckigen, wenig erbaulichen Block. "Das ist uns egal, wichtig ist: Wir wollen möglichst viele Nachbarn haben", sagt Frau Bensignor, die im Café öfters um sich schaut. Gleich nebenan wohne ein Nordafrikaner, schräg gegenüber eine afrikanische Familie. "Wir verstehen uns bestens, nehmen auch Postsendungen entgegen, wenn die anderen nicht da sind."

Und die Angst vor antisemitischen Attacken? "Ich hoffe, dass das nicht hierher kommt", sagt die energische, in Schwarz gekleidete Französin. "In unserem Viertel, wo das einfache Volk lebt, redet niemand von Religion. Ob der Metzger halal ist oder der Bäcker koscher, spielt hier zum Glück noch keine Rolle."

Keine Juden mehr

Anderswo schon. In einzelnen Orten oder Vierteln der endlosen Pariser Banlieues leben heute keine Jüdinnen und Juden mehr. 20.000 von ihnen seien in den letzten Jahren um- oder weggezogen, schätzt die BNVCA, die Anlaufstelle für antisemitische Gewaltakte. Der Demoskop Jérôme Fourquet listete in einem Buch ein paar Beispiele des lokalen Aderlasses in den sogenannten "schwierigen" Banlieue-Orten auf: In Aulnay-sous-Bois sank die Zahl der jüdischen Familien in den letzten fünfzehn Jahren von 600 auf 100, in Blanc-Mesnil von 300 auf 100, in Clichy-sous-Bois von 400 auf 80.

Die meisten sind innerhalb Frankreichs umgezogen, etwa in den kleinbürgerlichen 17. Pariser Bezirk, der in wenigen Jahren zu einem Magnet für Juden aus den Banlieues geworden ist. Andere haben gleich die "Alya" vollzogen, den Auszug nach Israel. Und jene jüdische Eltern, die in Frankreich bleiben, schreiben ihre Sprösslinge in die boomenden jüdischen Privatschulen ein. Wie auch Stella Bensignor: "Wir hatten keine Wahl, obwohl meine Kinder keinerlei Kippa trugen."

Schwierige Statistik

Genaue Zahlen über den jüdischen Exodus kennt niemand, denn Frankreich führt aus Prinzip keine ethnischen oder religiösen Statistiken. Unbestreitbar ist: Seit der Dreyfus-Affäre vor gut einem Jahrhundert und seit den Judenverfolgungen unter dem Vichy-Regime des Zweiten Weltkriegs fühlen sich die französischen Juden – welche die größte jüdische Gemeinschaft Europas bilden – erstmals wieder bedroht. Existenzbedroht.

Am Dienstag beginnt in Paris der Prozess gegen den Mörder von Mireille Knoll, einer jüdischen Pariserin, die der KZ-Deportation in Paris 1942 knapp entronnen war. Sie war 2018 von einem Bekannten zu "Allahu akbar"-Rufen erstochen worden, wobei laut einem Komplizen Geldneid ein Motiv abgegeben habe.

Laut der Staatsanwaltschaft spielte Antisemitismus auch bei einem Fall von Homejacking in Livry-Gargan mit. In dem verarmten Vorort im Nordosten von Paris brachen fünf Täter bei jüdischen Rentnern ein. Sie fesselten sie und pressten ihnen mit Schlägen die Kreditkartencodes ab – "weil die Juden Geld haben", wie sie nach ihrer Festnahme aussagten.

"Bagatellisiert"

Umstrittener ist der Tod von Sarah Halimi. Die jüdische Rentnerin war von ihrem Nachbar 2017 über den Balkon in den Tod gestürzt worden. Der junge Malier erklärte der Polizei, er habe den "Sheitan" (Teufel) austreiben wollen. Trotz heftiger Proteste der jüdischen Gemeinschaft wurde er für unzurechnungsfähig erklärt und psychiatrisch interniert. Frau Bensignor ärgert sich: "Bei jedem Gewaltakt wird der Antisemitismus zuerst in Abrede gestellt, dann bagatellisiert."

Soeben hat sie Neuigkeiten aus ihrem Herkunftsort Romainville erhalten. In 50 Briefkästen fanden sie Mitte Oktober Kopien alter "Juderei"-Karikaturen, auf die Dinge geschmiert waren wie "jüdische Bankergauner" oder "Alles Juden, alles Sozis". Der Täter, laut einer Überwachungskamera ein älterer Mann, klingt eher nach Rechtsextremist als nach Salafist; gefasst ist er noch nicht.

Stella Bensignor seufzt und sagt, sie sei wirklich froh, aus Romainville weggezogen zu sein. "Geflohen", korrigiert sie sich selber. (Stefan Brändle aus Romainville, 25.10.2021)