2018 waren unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hinter diesem Stacheldraht untergebracht, das Gelände wurde von Hunden bewacht, die Einrichtung war mangelhaft.

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Einmal pro Tag das Gelände verlassen, aber nur in Begleitung eines Security-Mitarbeiters, und das auch nur für eine Stunde: Das war im Dezember vor drei Jahren für ein paar Tage die Realität für 16 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) im niederösterreichischen Drasenhofen. Die Jugendlichen wurden in ein Quartier verlegt, das mit Stacheldraht umzäunt war. Nach großer öffentlicher Empörung wurden die Betroffenen nach wenigen Tagen in andere Quartiere gebracht.

Politisch verantwortlich für die Vorgänge war Integrationslandesrat Gottfried Waldhäusl (FPÖ). Bereits vor einigen Monaten entschied das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, dass die Unterbringung der Flüchtlinge rechtswidrig war. Doch auch strafrechtliche Folgen könnte die Angelegenheit noch haben: Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) erhob gegen Waldhäusl und eine in der Causa verantwortliche Mitarbeiterin des Landes Anklage wegen Amtsmissbrauchs. Der Zweitangeklagten werden außerdem Beweismittelfälschung und Verleumdung vorgeworfen.

Ende November müssen sich die beiden vor dem Landesgericht St. Pölten verantworten. Dem STANDARD liegt die Anklageschrift in voller Länge vor. Waldhäusl wird darin vorgeworfen, zumindest 14 betroffene Jugendlichen, die sich in einem Asylverfahren befanden, in ihrem Recht auf Grundversorgung und einer geeigneten Unterkunft geschädigt zu haben. Sein Amt habe er auch deshalb missbraucht, weil er veranlasste, dass die Jugendlichen in einer Unterkunft mit Stacheldraht untergebracht wurden, die für sie ungeeignet war.

Einrichtungen für "problematische Fälle"

Die Vorgeschichte: Waldhäusl initiierte 2018 den Maßnahmenplan "Fremde und Integration mit Sicherheit", es war "eines seiner wichtigsten politischen Vorhaben", rekapituliert die WKStA. Anlass sei unter anderem ein Tötungsdelikt in einer Betreuungseinrichtung gewesen. Es sollte also eine Betreuungseinrichtung geschaffen werden, die sich um die besonders problematischen Fälle kümmert, und zwar außerhalb der Grundversorgung.

Die Betroffenen seien einer ihre Persönlichkeitsentwicklung destabilisierenden Maßnahme unterworfen gewesen, schreibt die Staatsanwaltschaft. Dasselbe wird Beamtin W. vorgeworfen. W. war laut Anklage seit September 2018 für die Verlegung und Unterbringung der minderjährigen Flüchtlinge aus dem Erstaufnahmezentrum Traiskirchen zuständig. Bevor sie für das Büro Waldhäusl tätig wurde, arbeitete sie 15 Jahre lang bei einer NGO im Bereich der Flüchtlingsbetreuung. Im Rahmen einer extra geschaffenen Koordinierungsstelle für Kinder und Jugendliche im Asylverfahren fungierte sie dann in ihrem späteren Job bei Waldhäusl auch als gesetzliche Vertreterin der Jugendlichen.

Eigentlich wäre den Jugendliche nicht nur eine adäquate Unterkunft zugestanden, sondern auch Maßnahmen darüber hinaus, schreibt die WKStA unter Verweis auf die geltende Grundversorgungsvereinbarung: und zwar "Maßnahmen zur Erstabklärung und Stabilisierung, die der psychischen Festigung und dem Schaffen einer Vertrauensbasis dienen sollen". Ebenso brauche es eine Tagesstrukturierung wie Bildung und Freizeitaktivitäten sowie die Besprechung von Zukunftsperspektiven. Und die Unterkunft selbst müsste gewisse Standards erfüllen, wird festgehalten: etwa die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln und gewisse Möbel wie Bett, Kasten und Tisch. Internationalen Konventionen entsprechend müsse jedenfalls auch das Kindeswohl berücksichtigt werden.

"Chaotisch" und "traumatisierend"

Das entsprechende Konzept zur neuen Unterbringung der Jugendlichen in Drasenhofen wurde jedenfalls mehrmals überarbeitet und mehrfach verschärft. Die Umsetzung sei von Waldhäusl urgiert worden, zunächst scheiterte sie, "weil eine Betreuung zu einem Tagsatz von unter 100 Euro mit erhöhten Sicherheitsvorkehrungen nicht möglich war", schreibt die WKStA.

Auf Wunsch von Waldhäusl habe die Zweitangeklagte W. schließlich die Zuweisungsliste erstellt: Das neue Quartier solle für "Haftentlassene, Angezeigte, Verurteilte (auch Verwaltungsstrafen), die wiederholt gegen die Hausordnung verstoßen haben (...), Süchtige, psychiatrisch Beeinträchtigte, die zuvor Gewaltvorfälle verursacht haben (...), jene mit rechtskräftig negativen Bescheiden und jene mit aberkannten Aufenthaltstiteln bzw. während eines laufenden Aberkennungsverfahrens" geöffnet werden.

Erst drei Tage vor der Wiedereröffnung teilte die Zweitangeklagte dann die Namen jener Geflüchteten mit, die am 26. November nach Drasenhofen gebracht werden sollten. Eine Mitarbeiterin der Koordinierungsstelle beschreibt all das laut WKStA als "chaotisch". Außerdem, so der Vorwurf, seien die örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger nicht verständigt worden, dadurch habe man auch das Kindeswohl nicht prüfen können.

Hälfte der Jugendlichen floh

16 Jugendliche waren es schlussendlich, die zwischen dem 26. und dem 30. November in Drasenhofen untergebracht wurden, bei nur zweien war das Asylverfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen. Die Überstellung beschreibt eine Mitarbeiterin später als "potenziell retraumatisierend" und als "stark belastend". Außerdem heißt es in der Anklage: "Die Betreuungseinrichtung umF Drasenhofen hinterließ, als sie den Stacheldrahtzaun sahen, bei den ankommenden umF den Eindruck eines Gefängnisses." Einige der Burschen haben sich dem Prozess gegen Waldhäusl und die Mitarbeiterin als Privatbeteiligte angeschlossen.

Gründe, warum Drasenhofen völlig ungeeignet gewesen sei, nennt die WKStA zahlreiche: Erstens sei die Unterkunft extrem abgelegen gewesen und damit "nur schwer" mit den Vorgaben des Bund-Länder-Koordinationsrats in Einklang zu bringen. Rundherum befand ein grobmaschiger mobiler Zaun, darauf eine Reihe Stacheldraht, Fenstergriffe wurden abmontiert. Außerdem sollte ein Wachhund "laut internen Kabinettserwägungen den umF ob ihres Kulturkreises Respekt verschaffen, eine Kamera Überwachung signalisieren". Dazu durften die Burschen das Gelände nur begrenzt und in Begleitung verlassen. Ein Telefonnetz gab es "nicht ausreichend", WLAN war zumindest zu Beginn nicht gestattet. Außerdem sei das Betreuungskonzept noch nicht angelaufen gewesen, Personal noch nicht vollständig und die Räumlichkeiten noch nicht fertig.

Das fiel auch damals schon auf: Am ersten Tag besichtigten Waldhäusl und unter anderen ein Gemeindearzt und ein Bürgermeister das Quartier. Der Arzt habe dann zu erklären versucht, "dass mit Widerstand der Bevölkerung zu rechnen sei, wenn dieses Konzept verwirklicht wird", auch der Bürgermeister habe von Bedenken und Ängsten der Bevölkerung gesprochen. Schon am ersten Tag flohen Jugendliche aus dem Quartier, in Summe liefen mehr als die Hälfte der Bewohner davon.

Umsiedelung nach vier Tagen

Die mediale Berichterstattung kam prompt, heute.at titelte schon am Tag nach der Eröffnung: "'Alcatraz' für Asylwerber? Neues Heim in Drasenhofen", weswegen die niederösterreichische Kinder- und Jugendanwaltschaft und auch das UNHCR einen Besucht urgierten. Vier Tage nachdem die ersten Jugendlichen in das Quartier gezogen waren, verfasste eine Kinder- und Jugendanwältin einen Bericht, in dem von zahlreichen Mängeln die Rede war – der landete schnell in den Medien. Noch am selben Tag ließ Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) die Jugendlichen verlegen. Nun, fast drei Jahre später, stehen Waldhäusl und die Zweitangeklagte kurz vor dem Prozess: Am 30. November beginnt die Verhandlung am St. Pöltner Gericht.

Während der Ermittlungen tat sich allerdings noch ein zweiter Verfahrensstrang auf: der der Beweisfälschung und der Verleumdung. Knapp formuliert geht es darum, dass die Zweitangeklagte den Ermittlern eine Mail vorgelegt haben soll, die signalisierte, dass ihr direkter Chef über die Vorgänge Bescheid wusste. Nur: Ein entscheidender Teil der Mail fehlte, nämlich das Postskriptum. In dem heißt es: "PS es hat nichts mit 'nicht-mitreden' zu tun. ..da dies so nicht zutrifft- aber für dich ist diese Interpretation bequemer, rechnet man mit all den schwierigkeiten die es mit Drasenhofen noch geben könnte." (sic!) Was ebenfalls fehlte, war die vorhergehende Nachricht ihres Vorgesetzten, in dem er sich beschwerte, nicht bei Drasenhofen mitreden zu können. Nach Ansicht der WKStA wollte die Zweitangeklagte damit den Verdacht auf ihren Vorgesetzten lenken. Im Nachhinein rechtfertigte sie sich damit, dass sie die Ermittlungsbehörden nicht habe "zumüllen" wollen.

Für Waldhäusl wie seine Mitarbeiterin gilt die Unschuldsvermutung. Der Landesrat betonte stets, es sei in Drasenhofen um den Schutz der Bevölkerung, der Betreuer und der Flüchtlinge selbst gegangen. Er sei "überzeugt, im Zuge der Verhandlung beweisen zu können, dass alles rechtens abgelaufen ist, und gehe daher von einem Freispruch aus", sagte Waldhäusl im Mai, als die Anklage publik geworden war. Einen Rücktritt schloss er aus. Philipp Wolm, der Anwalt der Zweitangeklagten, teilt mit, dass seine Mandantin die Vorwürfe vehement bestreitet und diese als "unrichtig und haltlos" zurückweist.* (Vanessa Gaigg, Gabriele Scherndl, 26.10.2021)