Das von Otto Saxinger gestaltete Mahnmal für die Opfer der "Aktion T4" (Euthanasiemahnmal) steht im Salzburger Kurgarten.

Foto: Thomas Neuhold

Es war der erste industrielle Massenmord des NS-Regimes. Mehr als 70.000 Menschen wurden in den Jahren 1940 und 1941 im Zuge der "Aktion T4" umgebracht. Die nach dem Sitz der Nazi-Behörde in der Berliner Tiergartenstraße Nummer 4 benannte Aktion hatte die systematische Ermordung von Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen zur "Rassenhygiene" zum Ziel. Bekannt ist die Aktion T4 auch unter der euphemistischen Bezeichnung "Euthanasie" (altgriechisch für "schöner Tod").

Über 76 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus liegt nun erstmals ein Bericht des Salzburger Landesarchivs über die Rolle der Christian-Doppler-Klinik beziehungsweise ihrer Vorgängereinrichtung, der Landesheilanstalt, in der NS-Diktatur vor.

264 Tote

Auch wenn das eine oder andere Schicksal durch die Recherchen des Salzburger Historikers Gert Kerschbaumer für das Komitee Stolpersteine bereits bekannt war – das bedrückendste Kapitel des Berichts sind Namensliste und Biografien jener 264 Patienten und Patientinnen, die im Zuge der Aktion T4 abgeholt und später im oberösterreichischen Schloss Hartheim vergast wurden. Ob und welche Verbrechen in der Klinik direkt verübt worden sind, lässt der Bericht offen – das wird wohl Gegenstand weiterer Untersuchungen sein.

Kontinuität nach 1945

Beklemmend liest sich auch jenes Kapitel, in dem sich der Historiker Robert Obermair mit der Zeit nach 1945 beschäftigt. Penibel hat Obermair die Karrierestationen des 1962 von der Landesregierung zum Anstaltsleiter beförderten Mediziners Gerhart Harrer aufgelistet.

Harrer war aktiver Nazi und schon in der Illegalität bei der SS. Obschon seine spätere Nazi-Karriere bekannt war und Harrer auch danach aktiv Kontakte zu Rechtsextremisten wie Otto Scrinzi oder zum Euthanasiearzt Heinrich Gross unterhielt, wurde er als Mitglied der sozialdemokratischen Akademiker (BSA) mithilfe der SPÖ Chef der Landesnervenklinik. Später hielt auch die ÖVP jahrelang ihre schützende Hand über Harrer.

Gutachten in Opferfürsorgefällen

Obermair thematisiert ferner, dass ausgerechnet der SS-Arzt Harrer als Gutachter in Opferfürsorgefällen tätig sein konnte. In dem Bericht wird ein Salzburger Fall geschildert, in dem eine KZ-Überlebende 1966 nach einem Harrer-Gutachten um ihre Unterstützung gebracht wurde.

Zitat aus dem Gutachten: "Die Bedingungen im KZ können höchstens vorübergehend zu einer Erhöhung der Anfallsfrequenz geführt haben. Auf den weiteren Verlauf ist der KZ-Aufenthalt sicher ohne Einfluss geblieben. Somit besteht nervenfachärztlicherseits meines Erachtens keine Erkrankung, die nach dem OFG zu entschädigen wäre."

Widerstand der Kirchen

Der rund 400 Seiten starke Bericht des Salzburger Landesarchivs soll 2022 in Buchform publiziert werden.Bereits erschienen ist das jüngste Forschungsprojekt aus der historischen Schriftenreihe des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim.

In der Tötungsanstalt Hartheim (Gemeinde Alkoven in Oberösterreich) wurden von Mai 1940 bis Dezember 1944 zirka 30.000 Menschen ermordet. Auch die meisten der im Salzburger Bericht genannten Mordopfer wurden in Hartheim vergast.

Der im Studien-Verlag erschienene Band NS-Euthanasie: Wahrnehmungen – Reaktionen – Widerstand widmet sich dem Widerstand gegen die T4-Morde im konfessionellen Milieu, sprich in den beiden großen christlichen Kirchen. Der Befund ist für die Kirchen wenig schmeichelhaft: Die führenden Proponenten seien sich nicht einig gewesen, wie sie dem Morden gegenübertreten sollten, sagt der Leiter der Gedenkstätte Hartheim Florian Schwanninger im STANDARD-Gespräch.

"Individuell mutig"

Nur wenige hätten "individuell mutigen Widerstand" geleistet. Dieser hätte letztlich aber dann dazu beigetragen, dass die Aktion T4 am 24. August 1941 gestoppt worden sei. Wenige Tage davor hatte sich der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, in einer Predigt massiv gegen das Töten "unwerten Lebens" ausgesprochen. (Thomas Neuhold, 28.10.2021)