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Für Joe Biden geht es beim Budgetplan womöglich um alles.

Foto: AP Photo/Andrew Harnik

Wie oft waren die Countdowns verstrichen, ohne dass die Rakete zündete, auf die Joe Biden seine Hoffnung, seine gesamte Präsidentschaft setzt. Tage, Wochen, Monate hatten sich die Demokraten in einem kräftezehrenden innerparteilichen Streit verheddert. Jetzt steht Joe Biden im East Room des Weißen Hauses und wirbt für einen Kompromiss, für seine Reformpläne und direkt daran geknüpft das Schicksal seiner Präsidentschaft. "Nach Monaten harter und durchdachter Verhandlungen haben wir einen historischen wirtschaftlichen Rahmen", so Biden. "Dieser Rahmen umfasst historische Investitionen in unsere Nation und in unser Volk." Es sind die letzten Stunden, bevor der amerikanische Präsident die Air Force One besteigen wird, um zum G20-Gipfel in Richtung Europa aufzubrechen. Plötzlich überschlugen sich am Donnerstag die Ereignisse.

Es ist noch früh am Morgen, als in Washington die Meldung die Runde macht, dass der US-Präsident seine Europa-Reise um ein paar Stunden nach hinten verschiebt. Joe Biden wolle überraschend im Kapitol die Eckpunkte eines Kompromisses bei seinen Reformplänen verkünden, die er in den vergangenen Tagen und Nächten mit den zerstrittenen Flügeln seiner Partei ausgehandelt hat. Danach werde er ins Weiße Haus zurückkehren, um dort der Öffentlichkeit einen möglichen Durchbruch zu verkünden.

Der Präsident hofft, dass der ausgehandelte Kompromiss und seine Worte reichen werden, die Kritiker in den eigenen Reihen umzustimmen. Was für ein Licht hätte es auf die USA geworfen, wäre der mächtigste Mann der Welt mit einer zerstrittenen Regierungspartei im Nacken unverrichteter Dinge nach Rom gereist? Wie hätte Biden drei Tage später beim Klimagipfel in Glasgow anderen Nationen strengere Umweltauflagen abverlangen wollen, wo es ihm selbst nicht gelungen war, seine Klimaschutzpläne zu Hause durchs Parlament zu bekommen?

Poker um Billionen

Auf dem Tisch liegen zwei Billionen Dollar schwere Reformpakete, die Joe Biden seinen Wählern versprochen hatte und an denen sich der Präsident messen lassen möchte. Reformen, die seine Präsidentschaft prägen sollen, so wie "Obama-Care" auch heute noch das amerikanische Gesundheitswesen bestimmt. Das Zeitfenster, Bidens Pläne zu verwirklichen, schließt sich mit jedem Tag ein Stückchen mehr. Nächstes Jahr sind in den USA Midterm-Elections des Kongresses. Die Gefahr, dass die Demokraten dabei ihre Mehrheit verlieren, ist groß.

Beim ersten Paket handelt es sich um das Infrastrukturgesetz, den "American Jobs Plan": Geld für die Sanierung von maroden Straßen, Brücken und Schienen, Zuschüsse für den öffentlichen Nahverkehr, den Breitbandausbau sowie den Ausbau der Ladeinfrastruktur für E-Autos für mehr als eine Billion US-Dollar. Der Plan fand nach ein paar Verhandlungsrunden schnell Zustimmung – und zwar sowohl bei den Demokraten als auch bei den Republikanern. Im August passierte die Gesetzesvorlage den Senat mit Stimmen aus beiden Lagern und wartet seitdem nur noch auf eine Abstimmung im Repräsentantenhaus. Im Grunde eine Formsache, gäbe es nicht den Streit um das zweite Reformpaket.

Dabei handelt es sich um die "Build Back Better"-Agenda des Präsidenten, welche vor allem den Klimaschutz forcieren und die Sozialleistungen im Land ausweiten sollte. Ursprünglich sah der Plan Zuschüsse für Krankenversicherung, Medikamente, Zahnversorgung, aber auch für die Kinderbetreuung vor. So sollten Mütter und Väter zum ersten Mal in den USA Anspruch auf Elterngeld haben, ein Recht auf kostenlose Kindergartenplätze sowie den Besuch eines Community-Colleges. Vieles davon ist im jetzt vorgelegten Kompromissvorschlag nicht mehr zu finden.

Ursprünglich sieben Billionen US Dollar schwer, war Präsident Biden schnell klar, dass sich für dieses Wunschprojekt keine Mehrheit finden lassen wird, weder bei den Republikanern ("purer Sozialismus") noch bei den Zentristen innerhalb der eigenen Partei ("zu teuer"). Zunächst wurde der ursprüngliche Katalog auf 3,5 Billionen Dollar reduziert, am Ende auf 1,85 Billionen Dollar zusammengestrichen.

50 Präsidenten

Das Problem: Anders als beim Infrastrukturgesetz können die Demokraten beim Sozialgesetz auf keine Stimme von den Republikanern rechnen. Und da es im Senat 50:50 steht und nur die Stimme von Vizepräsidentin Kamals Harris das Resultat zugunsten der Demokraten verschiebt, darf es keine Abweichler geben. Dramatisch gesagt ist so "jeder Senator Präsident".

Heikel für den Chef im Weißen Haus: Nicht nur, dass einzelne Senatoren sein zweites Reformpaket torpedieren könnten, einige Abgeordnete hatten damit gedroht, das erste, bereits vereinbarte Gesetzespaket im Repräsentantenhaus zu Fall zu bringen, sollte man ihren Forderungen beim Sozialpaket nicht nachkommen. Ein Scheitern beider Reformen wäre der GAU einer Regierung, die aktuell in beiden Kammern des Parlaments über eine eigene Mehrheit verfügt.

Auf dem Spiel standen auch viele Karrieren: Nancy Pelosis etwa. Die demokratische Sprecherin im US-Repräsentantenhaus galt bisher als eine Person, die immer Ergebnisse liefert. Dann wären da Senator Joe Manchin aus West Virginia und Senatorin Kyrsten Sinema aus Arizona – jene konservativen Demokraten, die sich gegen Sozialprogramme sträubten und unter Druck stehen.

Und dann ist da noch der Präsident selbst, dessen Popularitätswert in letzten Umfragen auf 37 Prozent eingebrochen ist, neben Donald Trump einer der schlechtesten Werte für einen US-Präsidenten seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Für Biden geht es in diesen Stunden um alles. Sollte auch nur ein einziger Senator aus der Reihe tanzen, seine Zustimmung verweigern, ist Bidens Präsidentschaft beendet, bevor sie überhaupt so richtig begonnen hat.

Und so ist der Präsident, nachdem er die Air Force One Richtung Rom bestiegen hat, nun gänzlich seiner Partei ausgeliefert, ob und wie sie in seiner Abwesenheit über die Reformpläne abstimmen wird. Vielleicht hilft ein Stoßgebet an der Seite von Papst Franziskus, bei dem Joe Biden am Freitag eine Audienz haben wird. Gleich danach steht der Gipfel der G20 in Rom auf dem Programm, bevor es zum COP-26-Gipfel nach Glasgow gehen wird. (Richard Gutjahr, 28.10.2021)