"Und das da oben", sagt Urs Lenz, und 30 Augenpaare verfolgen den prachtvollen Vogel mit seinen breiten Schwingen, "ist ein Rotmilan." Urs Lenz ist Rietmeister der Schweizer Gemeinde Au und steht an diesem sonnigen Septembernachmittag auf einem Feldweg zwischen Wiesen, Röhricht und Bäumen. Störche staksen durchs Gras, Hasen hoppeln ins Gebüsch, im Osten und Westen rahmen Berge die Ebene des Rheintals. Die Wiese befindet sich im Auer Ried in Lustenau, und dass der Rietmeister aus der Schweiz kommt, liegt daran, dass das Feuchtgebiet zwar in Österreich liegt, aber einer Schweizer Gemeinde gehört. Ein Faktum, das sich bestens fürs Geschichtenerzählen eignet, und genau deswegen ist die Gruppe hier. Es ist der Auftakt für die "Luschnouar Spaziergäng" in diesem Herbst.

Die Mobilitätsdrehscheibe des Lustenauer Bahnhofs, Startpunkt für einen "Luschnouar Spaziergang".
Foto: Lukas Hämmerle

Wie lange der Rotmilan hier noch in Ruhe seine Kreise ziehen kann, ist offen, denn das Naturidyll ist seit Jahrzehnten Kandidat für eine Umfahrungsstraße. Das Problem mit dem Verkehr wird bei allen Spaziergängen umkreist, denn man kommt ihm nicht aus.

Ort als Omelette

Lustenau, mit knapp 24.000 Einwohnern die einwohnerreichste Marktgemeinde Österreichs, ist ein seltsamer Ort. Eine Art ausuferndes Omelette, durchzogen von gekrümmten Straßen, die alle ähnlich aussehen, mit Häusern, die selten hässlich sind, die aber keinen Bezug zueinander haben. Als hätte man einen Bausatz "Kleinstadt" auf einem Teppich ausgekippt, ohne ihn danach zusammenzubauen. Ein Typ Stadt, den man eher in Ohio erwarten würde als im Rheintal.

Eugene Quinn steht im Auer Ried und hält einen Zettel mit bunten Diagrammen in die Höhe. "Das ist der Modal Split von Lustenau. 52 Prozent fahren mit dem Auto, nur zwölf Prozent gehen zu Fuß." Fraktionsobfrau Christine Bösch-Vetter (Grüne) und Mobilitätsgemeinderat Mathias Blaser (ÖVP) nicken, sie kennen die Zahlen. Zustimmung auch bei einer Mitspaziererin. "Wir gehen in Lustenau nicht." Der Spaziergang ist eine Ausnahme.

Um festzustellen, dass hier etwas im Argen liegt, reicht es, anstatt im Ried durch den Ort selbst zu spazieren, am besten an einem Montagmorgen. Eine lückenlose Pkw-Karawane zieht sich durch das, was man annähernd als Ortsmitte bezeichnen kann, während sich auf der Reichsstraße, wie die B 203 hier heißt, die Lkws kilometerlang vor dem Nadelöhr des Grenzübergangs zur Schweiz stauen. Als Fußgänger hat man wenig Freude. Die Gehsteige sind schmal oder inexistent, die Distanzen lang.

Dies ist einer der Gründe, warum der in London geborene Wahl-Wiener Eugene Quinn sich heute am westlichen Ende Österreichs wiederfindet. Der Erfinder der "Vienna Ugly Tour", Gründer der Wiener Initiative Whoosh und der Vienna Walking Week wurde von der Gemeinde eingeladen, um den Lustenauern Beine zu machen, ihnen en passant den Spiegel vorzuhalten, ihnen Fragen zu stellen und sie zum Reden zu bringen.

Rebellischer Optimist: Walk-Ideengeber Eugene Quinn.
Foto: Lukas Hämmerle

Schon im Jahr zuvor war auf dem Rad-Festival Festivelo 2020 die für das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt in Kooperation mit dem Vorarlberger Architekturinstitut (vai) konzipierte Ausstellung Fahr Rad! Die Rückeroberung der Stadt gezeigt worden. Die "Luschnouar Spaziergäng" sind so etwas wie die fußläufige Fortsetzung dieser Strategie.

Einen Tag später, kurz vor Mitternacht, es regnet in Strömen, marschiert die nächste Spaziergruppe durch den Ort. Dieses Mal geführt von Lustenauer Jugendlichen, die ihre beliebtesten Treffpunkte und Graffiti-Liebesbekundungen zeigen, von Berufswünschen erzählen (Steuerberater) und von der Polizei, die sie regelmäßig kontrolliert und vom offiziellen Jugendtreff verscheucht, obwohl sie dort nur sitzen und reden. Triefnass und glücklich bilanziert der leidenschaftliche Regenschirmverweigerer Eugene Quinn: "Es ist erstaunlich, wie bereitwillig die Jugendlichen Auskunft geben, und auch sie sind erstaunt und stolz, dass sich jemand für sie interessiert."

Ganz en passant wird jeder Spaziergang auch zur Architekturexkursion, einfach, weil Lustenau eine so hohe Dichte an qualitätsvoller Architektur aufzubieten hat. Die Wohnsiedlung Hasenfeld, ein frühes und gut gealtertes Werk von Baumschlager Eberle, der neue Kindergarten am Engelbach von Innauer Matt, die spacige Bushaltestelle am Engel-Kreisverkehr von Albrecht Bereiter Architekten, der neue Bahnhof von Ostertag Architekten.

Was ist nun das Besondere an einer nun doch schon seit einiger Zeit existierenden Praxis wie dem Gehen? Sehr viel, sagt Eugene Quinn. "Gehen ist rebellisch, weil es langsam und wirtschaftlich ineffizient ist, aber beim Gehen löst man Probleme, und man sammelt Geschichten fürs Leben. Das geht im Auto nicht. Walks wie die in Lustenau haben das Potenzial, Menschen und Geschichten auch in der eigenen Stadt ans Tageslicht zu bringen."

Ein großes Angebot

Dieser Trend lässt sich nicht nur in Lustenau beobachten. Stadtspaziergänge haben längst das Territorium rein touristischer Fremdenführer verlassen, heute wenden sich Spaziergänge mehr an Einheimische, die hinter die Kulissen ihrer eigenen Stadt schauen wollen. In Wien bietet Petra Unger im Rahmen der von ihr konzipierten Frauen* Spaziergänge insgesamt 50 verschiedene Routen durch die Stadt an, und in Eugene Quinns Geburtsstadt London gibt es inzwischen auch für das schrulligste Thema genügend Interessierte, um einen Spaziergang zu ermöglichen.

Die "Vienna Ugly Tour", die Eugene Quinn zur lokalen Berühmtheit machte, ist inzwischen ein Bestandteil von vielen in einem fast unüberschaubaren Fußgängerprogramm: Mitternachts-Walk, Schwimm-Walk, Weinbau-Walk, Rooftop-Walk, Falco-Tour. Wichtig ist sie Quinn aber trotzdem, vor allem, weil sie missverstanden wird. "Es geht nicht darum, sich lustig zu machen. Es ist ein ernsthafter Liebesbrief an die stylishe Melancholie Wiens, eine interaktive Debatte über den öffentlichen Raum."

Einmal wird Eugene Quinn dieses Jahr noch die Reise ins Rheintal antreten. Der letzte "Luschnouar Spaziergang" dieses Jahr wird sich im November ganz der Architektur widmen, Spaziergangspartnerin ist die Lustenauer Architektin und Publizistin Marina Hämmerle, frühere Direktorin des Vorarlberger Architekturinstituts. Nächstes Jahr, wenn der Modal Split wieder gemessen wird, wird man wissen, wie viele Lustenauer sich vom Spazierengehen zum Dauerlaufen haben bewegen lassen. (Maik Novotny, 31.10.2021)