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Die Möglichkeit einer legalen und sicheren Abtreibung steht in den USA einmal mehr unter Beschuss.

Foto: Reuters/EVELYN HOCKSTEIN

Als Texas vor kurzem das restriktivste Abtreibungsgesetz aller US-Bundesstaaten erließ, wurde das allgemein als Meilenstein und neuer Anstoß für die Debatte um das Recht auf Abtreibung in den USA gesehen. Jahrzehntelang war das Urteil zu Roe vs. Wade die rechtliche Basis für legale Abtreibungen. Konservative Politiker*innen in Texas sind nun angetreten, dies zu ändern.

In den USA herrscht seit Jahrzehnten ein erbitterter Kulturkampf, in dessen Zentrum die Frage steht, ob und wann Frauen abtreiben dürfen. Dabei geht es hier längst um sehr viel mehr als nur um das Thema legale Abtreibung. Es geht darum, wie sehr sich eine Gesellschaft polarisieren, ja spalten lässt.

Während das Thema Abtreibung in Europa vergleichsweise selten so viel öffentliche Präsenz erlangte, ist es in den USA omnipräsent. Auch wenn es inzwischen im Kontext der Verschärfungen des Abtreibungsrechts in Polen sowie koordinierter Vorstöße von Abtreibungsgegner*innen auf EU Ebene auch hierzulande wieder aufflammende Diskussionen um das Thema gibt, so ist die Dimension doch eher keine, die eine große Öffentlichkeit erreicht. In den USA ist das anders. Jede und jeder hat dazu eine Meinung, anhand derer er sich ganz klar positionieren kann. Es gibt nur mehr pro life oder pro choice. Der Raum dazwischen ist deutlich kleiner geworden.

Roe vs. Wade

Roe vs. Wade. Das war lange die Antwort darauf, wie es denn um Abtreibung in den USA bestellt sei. Der Fall Roe vs. Wade hat seine Wurzeln in Texas, wie auch das aktuell verabschiedete Gesetz. Es begann 1969 in Dallas, als die Anwältinnen von Norma McCorvey, einer damals anonymen alleinstehenden Frau (Jane Roe), Henry Wade, den Bezirksstaatsanwalt von Dallas County, der den Bundesstaat Texas vertrat, verklagten, damit ihr eine Abtreibung erlaubt werden konnte. McCorvey ging zu ihrem Arzt in Dallas, um eine Abtreibung zu veranlassen, aber diese wurde ihr verweigert, weil ihre Gesundheit durch die Schwangerschaft nicht gefährdet war. McCorvey hatte nie eine Abtreibung, sondern gab ihr Kind zur Adoption frei.

Zwei Anwältinnen, Sarah Weddington und Linda Coffee, reichten den Fall 1970 beim US-Bezirksgericht des Northern District of Texas ein. Die dreiköpfige Jury erklärte das texanische Gesetz für verfassungswidrig, und im Laufe von drei Jahren wurde der Fall schließlich bis zum Obersten Gerichtshof gebracht, der das bahnbrechende Urteil erließ. Unter Verweis auf den 14. Zusatzartikel der US-Verfassung wurde die Entscheidung einer schwangeren Frau, eine Abtreibung vorzunehmen, mit Hinweis auf das Recht der Privatsphäre legalisiert. Seitdem wurde von konservativer Seite immer wieder versucht, das Urteil zu kippen, bisher jedoch erfolglos.

Tatsächlich hatte das Urteil aber auch den Effekt, die sehr unterschiedlich argumentierenden Gruppierungen von Abtreibungsgegner*innen auf nationaler Ebene zu einen, da Roe vs. Wade die Dringlichkeit einer gemeinsamen Allianz vor Augen führte. Damit schrieb sich Roe vs. Wade in eine beinahe hundertjährige Geschichte im Kampf um das Recht auf reproduktive Freiheit in den USA ein, in deren Zug sich die Verbindung von gesellschaftlichen Veränderungen, politischen Interessen und medizinischen Entwicklungen in teils seltsam anmutenden Allianzen niederschlugen. So vereinten sich etwa im Rahmen eugenischer Rechtsreformbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts progressive Politiker*innen mit Mediziner*innen, Rassist*innen und auch Feminist*innen hinter der Idee, dass die "Optimierung" der Bevölkerung notwendigerweise Maßnahmen der Geburtenkontrolle einschloss.

"Wir danken Gott für dieses Gesetz"

Der texanische Gouverneur Greg Abbott unterzeichnete im September 2021 ein neues Gesetz, das Abtreibungen in Texas bereits nach sechs Wochen beziehungsweise ab dem Zeitpunkt, bei dem der Fötus über einen Herzschlag verfügt, verbietet – eine Zeitspanne, die für viele Frauen zu kurz ist, um überhaupt festzustellen, dass sie schwanger sind. Während sich der Staat mit den neuen Beschränkungen des Abtreibungsrechts auseinandersetzt, stehen christliche Gruppen in Dallas, wo der Fall Roe begann, erneut im Mittelpunkt der Abtreibungsdebatte und gewinnen mehr und mehr an Bedeutung. "Unser Schöpfer hat uns das Recht auf Leben verliehen, und dennoch verlieren jedes Jahr Millionen von Kindern ihr Recht auf Leben aufgrund von Abtreibungen", sagte Abbott, als er das Gesetz unterzeichnete. Die Legislative "arbeitete überparteilich zusammen, um ein Gesetz zu verabschieden, das ich gleich unterschreiben werde, das sicherstellt, dass das Leben jedes ungeborenen Kindes, das einen Herzschlag hat, vor den Zerstörungen der Abtreibung gerettet wird".

Ähnliche Gesetzesentwürfe wurden von anderen Bundesstaaten verabschiedet und von den Gerichten gestoppt, aber das texanische Gesetz hat hier vorgesorgt und eine besondere Tücke: Anstatt dass sich die Regierung direkt einmischt, übergibt sie durch den Gesetzesentwurf die Zügel an Privatpersonen, die nun ermächtigt sind, jede Frau anzuzeigen, die eine Abtreibung durchführt, oder auch jede Person oder Institution, die jemandem hilft, eine Abtreibung durchzuführen. Man muss sich nicht einmal kennen. Es reicht, wenn man davon gehört hat, dass jemand abgetrieben hat. Damit entsteht eine ganz neue Dimension von Denunziantentum oder "civil enforcement", wie es im Englischen so schön heißt. Dieser Teil des Gesetzes ist es auch, der zuletzt bei einer Anhörung des Supreme Court – auch bei konservativen Mitgliedern – offenbar zu Bedenken führte.

Das neue Gesetz bestätigt fundamentalistische Christ*innen und all jene religiösen Eiferer, die gegen ein Selbstbestimmungsrecht von Frauen kämpfen, in ihrem Anliegen. Konservative und christliche Organisationen frohlockten folglich über das neue texanische Gesetz und feierten es als "gewaltigen Sieg", wie Elizabeth Graham, Vizepräsidentin von Texas Right to Life, in einem Interview sagte: "Wir feiern das und danken Gott für den Segen dieses Gesetzes," so die Anti-Abtreibungs-Aktivistin. Ihre Organisation hat bereits eine "Pro-Life-Whistleblower"-Website erstellt, die Bürger*innen ermutigt, anonyme Hinweise über Personen zu geben, von denen sie glauben, dass sie an Abtreibungen beteiligt waren und somit gegen das neue Gesetz verstoßen haben.

Glaube, Recht und Politik

Dieser auf einer spezifischen Interpretation des Christentums basierende Kampf gegen Abtreibung ist seit langem sehr präsent und robust in den USA. Einerseits wäre es falsch, zu behaupten, dass das amerikanische Christentum schon immer und komplett einheitlich die Rolle eines Gegenspielers einnimmt. Auch wenn sich unterschiedliche christliche Denominationen gerade in konservativer Ausprägung tendenziell einig sind, dass Abtreibungen zu verbieten sind, ist dies nicht unbedingt als eindeutige, historische Kontinuität zu lesen, wie das von evangelikaler Seite gerne betont wird. So war Abtreibung bis 1850 kein sehr umstrittenes Thema und wurde beispielsweise von den Puritanern ohne größeren Widerspruch geduldet. Und auch bis in die Gegenwart finden sich progressive christliche Gemeinschaften, die sich für den Zugang zu Verhütung und das Recht auf sichere, legale Abtreibungen starkmachen.

Andererseits hat die Abtreibungspolitik maßgeblich zur Ausweitung konservativer, religiöser Interessenvertretung in den USA beigetragen und damit die Landschaft konservativen Politisierens verändert, wie der Politikwissenschafter Andrew R. Lewis betont. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass evangelikale Christ*innen erst im Zuge des Kampfes um Abtreibung tatsächlich Zugang zum politischen Prozess gefunden haben, da sie die Entscheidung Roe v. Wade als direkten Angriff auf christliche, insbesondere christlich-familiäre, Werte empfanden. Die Vorstellung einer heteronormativen Familie als Grundlage des christlichen Amerikas schließt einen Großteil aktueller Lebensentwürfe aus – und somit können viele Themen rund um Rechte wie Gleichheit und sexuelle sowie reproduktive Selbstbestimmung als Teil eines großen Kulturkampfes geframt werden.

Der Showdown hat gerade erst begonnen

Der unvermeidliche Showdown darüber, ob Roe vs. Wade nach Jahrzehnten gekippt wird oder nicht, steht nun kurz bevor, so der allgemeine Tenor. Anfang Oktober gab es als Reaktion auf das Gesetz einen landesweiten Protest von tausenden Bürger*innen, die für das Recht auf Abtreibung demonstrierten. Viele Menschen wollen sich diesen konservativen Backlash nicht gefallen lassen und gehen dagegen auf die Straße. "Don't let their beliefs fuck with our rights" stand auf einem der Plakate. Die fundamentalen Rechte von Frauen sollten nicht durch das beeinflusst werden, was andere Menschen glauben. Eine sehr treffende Zusammenfassung der ganzen Diskussion.

Nachdem ein US-Gericht das extrem strenge Abtreibungsgesetz in Texas vorübergehend gestoppt hatte, mit der Begründung, dass Frauen durch das Gesetz unrechtmäßig daran gehindert werden, Kontrolle über ihr Leben auszuüben, wurde es nun in der nächsten Instanz wieder zugelassen. Der Kampf um das Recht auf Abtreibung hat in den USA gerade erst wieder begonnen. (Michael Hunklinger, Katharina Limacher, 2.11.2021)