Nikola Göttling zog mit ihrem Wunsch, ihren Todeszeitpunkt selbst zu wählen, bis vor den Verfassungsgerichtshof – und bekam recht.

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Nikola Göttling will selbst entscheiden, wann sie stirbt. Nicht mehr und nicht weniger. Die 50-Jährige leidet an einer schweren neurologischen Erkrankung. Sollte sie irgendwann regungslos ans Bett gefesselt sein oder ihr Leben immer qualvoller werden, dann möchte sie sich unnötiges Leid ersparen und ihren Todeszeitpunkt frei wählen. Vom Gesetzgeber bekommt sie diese Freiheit nun. Bis Ende des Jahres tritt das neue Sterbeverfügungsgesetz in Kraft.

Bisher war Sterbehilfe in jeder Form verboten. Göttling selbst hatte vor mehr als zwei Jahren mit vier Mitstreitern den Antrag gestellt, das Verbot aufzuheben. Mit Erfolg. Vergangenen Dezember 2020 bekam sie vom Verfassungsgerichtshof recht. Es widerspreche dem Grundrecht auf Selbstbestimmung, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten. Aktive Sterbehilfe durch Ärzte bleibt weiterhin verboten. Die Richter strichen aber das Verbot der Beihilfe zum Suizid aus dem Strafgesetzbuch – und setzten den Gesetzgeber unter Zugzwang.

Seit kurzem liegt ein erster Gesetzesentwurf vor. Er soll den "assistierten Suizid" in geregelte Bahnen lenken. Sterbehilfe wird jedenfalls eine absolute Ausnahme sein: Offen steht der Weg nur Erwachsenen, die unter einer "unheilbaren, zum Tod führenden Krankheit" oder einer "schweren, dauerhaften Krankheit" leiden, die die Betroffenen in ihrer "gesamten Lebensführung dauerhaft beeinträchtigt."

Liegen alle Voraussetzungen vor, dürfen Patientinnen und Patienten eine Sterbeverfügung einrichten, die ein Jahr gültig bleibt. Mit diesem Dokument können sie sich dann ein tödliches Präparat aus der Apotheke holen (siehe Wissen unten).

Assistierter Suizid braucht Helfer

"Ich habe mich sehr über den Gesetzesentwurf gefreut", sagt Göttling. "Es ist ein erster Schritt und gut, dass es die Möglichkeit jetzt gibt." Dem Vorschlag, dass man das Präparat selbst in der Apotheke bezieht, kann sie viel abgewinnen. Damit sei man nicht an einen bestimmten Termin gebunden. Die Patientenverfügung solle aber länger als nur ein Jahr gültig sein und auch schon präventiv erstellt werden können. Sie findet es gut, dass man sich aussuchen kann, wo man das Mittel einnimmt.

"Ich bin nach wie vor felsenfest davon überzeugt, dass Menschen ein Recht haben, ihren Todeszeitpunkt frei zu wählen", sagt Göttling. Dass Beihilfe zum Suizid ab 2022 erlaubt ist, wird allerdings nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch andere Beteiligte vor schwierige moralische Fragen stellen.

Ohne Apotheker, die das Mittel zur Verfügung stellen, oder Angehörige, die dabei unterstützen, wird assistierter Suizid nicht möglich sein. Eine besondere Rolle kommt Palliativmedizinern zu, die die Patienten aufklären müssen. Dazu kommt, dass die Sterbehilfe laut Regierung bevorzugt in einem "privaten Rahmen" stattfinden soll.

Völliges Neuland

Andrea Schwarz, Pflegerin im Hospiz der Caritas Socialis in Wien, sieht Beihilfe zum Suizid sowohl zu Hause als auch in den Institutionen problematisch. "Man stellt sich das in der Theorie oft leichter vor, als es in der Praxis ist", erzählt Schwarz. "Wir müssen uns jetzt dennoch damit beschäftigen und sind gerade dabei, eine Haltung zu entwickeln. Wir werden jedenfalls niemanden alleinlassen."

Ob ein Arzt Beihilfe zum Suizid leistet, sei immer eine individuelle Entscheidung, sagt Dietmar Weixler, Präsident der Österreichischen Palliativ Gesellschaft (ÖPG). "Für uns Ärzte ist das völliges Neuland, wir haben keine Erfahrung damit. Das Thema wurde leider jahrzehntelang tabuisiert." Dass viele Menschen die neue Regelung in Anspruch nehmen werden, glaubt der Mediziner nicht.

Laut Umfragen sind die Menschen in Österreich grundsätzlich offen für assistierten Suizid. Nur 26 Prozent der von Gallup im Auftrag des Vereins für selbstbestimmtes Sterben – Letzte Hilfe Befragten schlossen diesen für sich selbst grundsätzlich aus. Die Frage, ob man den Suizid eines schwerkranken Angehörigen begleiten würde, bejahten viele Teilnehmer in einer Online-Diskussion des STANDARD. "Wenn einem Menschen das Leben nur noch eine Qual ist, dann ist es ein Akt der Gnade, ihm den Wunsch zu sterben zu erfüllen. Dieser Wunsch sollte natürlich klar artikuliert sein", schrieb etwa User "2¢".

Persönliches Urteil

Die Entscheidung müsse überlegt sein, betonen auch Philosophen, die über Sterbehilfe nachdenken. Sie müsse über längere Zeit gereift und entsprechend artikuliert werden.

Die zentrale Frage ist letztlich, wie lebenswert ein Leben mit schwerer Krankheit ist. Aus katholischer Sicht ist das Leben heilig und etwas dem Menschen Anvertrautes. Es muss gehütet werden, auch wenn es leidvoll ist.

Der Schweizer Verein Dignitas, der sich für ein Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende einsetzt – dazu gehört auch, aber nicht ausschließlich, Menschen den assistierten Suizid zu ermöglichen –, sieht "das persönliche Urteil über die eigene erlebte Lebensqualität" als Teil der Freiheit zur Lebensgestaltung.

Eine progressiv-liberale Position beinhalte auch die Freiheit, den Todeszeitpunkt frei zu wählen. "Ein selbstbestimmter Tod ist das, was jede einzelne Person für sich als solchen definiert", betont man. (Jakob Pflügl, Aloysius Widmann, 30.10.2021)