Wer möchte, darf sich hinlegen. Oder hinsetzen. Oder auch gehend oder stehend verweilen. Ganze drei Stunden wird die Performance von Isabel Lewis dauern. Dass jemand die ganze Zeit bleibt, erwartet sie eigentlich nicht. Hier darf man kommen und gehen, wie man möchte. In Kooperation mit dem Tanzquartier Wien (TQW) wurde die in Berlin lebende Künstlerin eingeladen, im Belvedere 21 zu performen. Drei Tage lang, jeweils drei Stunden.
Urban Flourishing heißt das Stück, das Lewis bereits 2019 bei der Biennale in Venedig aufgeführt hat. In Wien zeigt sie jetzt quasi ein Update. Ihre Performances sind ortsspezifisch und wandeln sich je nach der Geschichte und den Materialien des Ortes – sowie dessen Geruch.
Spätestens bei diesem Detail entpuppt sich Lewis’ choreografische Praxis als Mischformat. Das TQW kündigt das als "Guided Experience für kollektives Hören in einer erweiterten, vollständig sensorischen Weise" an. Die 1981 in der Dominikanischen Republik geborene Künstlerin vermengt in ihren Occasions Sound, Geruch und Tanz. Ihr Ziel: alle Sinneslevel anzusprechen. Für den Einsatz von Düften arbeitet Lewis sogar mit der norwegischen Geruchsforscherin Sissel Tolaas zusammen. Gemeinsam erstellte Duftnoten werden entweder über Diffuser oder direkt an anderen Performern im Raum verteilt.
Odor von Nachtschweiß
Bei Urban Flourishing sind Postkarten die Träger der imprägnierten Duftstoffe. Wonach das dann genau riecht, ist schwer definierbar. Bei einer Performance in der Schirn Kunsthalle Frankfurt 2017 erinnerte beispielsweise das olfaktorische Erlebnis an den Geruch des Berliner Kultclubs Berghain nach einer durchtanzten Nacht.
Ihre Sounds bastelt Lewis aus sphärischen Klängen, Ambient-Musik, eigenem Gesang und auch gesprochenem Wort zu einem allsensorischem Potpourri, in das sich Teilnehmende fallen lassen können. Bei der Performance Urban Flourishing erzählt Lewis Geschichten über unser Zusammenleben als städtische Bewohner und Bewohnerinnen und spickt sie mit Details aus feministischer Literatur. So bezieht sich die in Tanz, Literaturkritik und Philosophie ausgebildete Künstlerin auf den Begriff "queerness of time" eines Werks der Historikerin Carolyn Dinshaw, worin unterschiedliche koexistente Zeitebenen für möglich gehalten werden.
Dennoch folgt Lewis in ihrer Performance – die sie bereits in renommierten Kunstinstitutionen wie dem Palais de Tokyo in Paris oder der Londoner Tate Modern gezeigt hat – keiner strengen Narration oder Dramaturgie. Es sei nicht als Theaterstück zu verstehen, bei dem es ein fixes Publikum und eine Bühne gibt, sagt sie. Viel eher sieht sich die Künstlerin als Gastgeberin und ihr Publikum als aktiv Teilnehmende.
Deren geschenkte Aufmerksamkeit beeinflusse wiederum die Performance. "Ich möchte die Ideen von passiven Beobachtern und aktiven Performern auflösen", erklärt Lewis. "Wir sind alle aktiv – nur zu einem unterschiedlichen Grad. Es ist ein gemeinsamer Prozess." (Katharina Rustler, 30.10.2021)