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Nimmt man zu viele Medikamente parallel ein, kann sich die Wirkung verändern oder aufheben. Ein Medikamentenplan, erstellt mit dem Hausarzt, hilft.

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Der menschliche Körper ist nicht für die Ewigkeit gebaut. Mit zunehmendem Alter hakt es hier und dort. "Ab 65 Jahren haben die meisten drei oder noch mehr Diagnosen wie Diabetes, hoher Blutdruck oder erhöhtes Cholesterin, Arthrose oder chronische Bronchitis", sagt Brigitte Ettl, Präsidentin der Österreichischen Plattform Patientensicherheit. Das addiert sich dann schnell auf fünf bis sechs Medikamente pro Tag. Hinzu kommen noch Selbstmedikation mit Mineralien, Vitaminen, Kräutern zum Beruhigen oder besseren Schlaf sowie frei verkäufliche Schmerzmittel. Das ergibt oft einen bedenklichen Mix.

"Mit der Anzahl der verabreichten Medikamente steigt aber das Risiko für Wechselwirkungen stark an", sagt Ettl. Denn viele Wirkstoffe beeinflussen sich gegenseitig, Nebenwirkungen können sich verstärken und dadurch gefährlich werden. "Wechselwirkungen treten dabei nicht nur mit verschreibungspflichtigen und frei verkäuflichen Medikamenten, sondern auch mit Nahrungsergänzungsmitteln, Getränken, Rauschmitteln und pflanzlichen Heilmitteln auf".

Gefährliche Wechselwirkungen

Diese Interaktionen verursachen nicht nur unspezifische Beschwerden wie Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Verstopfung, Kopfschmerzen oder Schwindel. So erhöht zum Beispiel die Kombination bestimmter Schmerzmittel mit Gerinnungshemmern die Gefahr für Blutungen, manche Medikamente gegen Osteoporose behindern sich gegenseitig in der Wirkung, Magensäureblocker reduzieren den Effekt von Antibiotika und Blutverdünnern, manche Herzmittel heben die Effekte von Asthmaarzneien auf, Viagra und Herzmittel führen gar zum gefährlichen Blutdruckabfall, und auch Kräuter wie Johanneskraut reduzieren die Wirksamkeit beispielsweise von Medikamenten, die gegen chronische Entzündungen gegeben werden.

Eine weitere Folge von zu vielen Medikamenten: Manche Patienten sind damit überfordert oder bestimmen für sich selbst, was gut für sie ist. "Tatsächlich nimmt nur jeder Zweite seine Dauermedikation wie vorgeschrieben ein, der Rest variiert bewusst oder unbewusst", sagt Marjan van den Akker, die an der Universität Frankfurt den Lehrstuhl für Multimedikation leitet. Etwa jeder dritte Patient wisse nicht von allen seinen Medikamenten, wofür er welche Tablette einnimmt.

Entsprechend niedrig sei die Motivation, sich an die Verschreibung zu halten. Manche machten einfach mal eine Medikamentenpause, zum Beispiel sonntags "medikamentenfrei", oder nehmen es auf Reisen nicht so ernst damit. Andere variieren in der Dosis oder dem Einnahmezeitpunkt. "Wer morgens zum Frühstück viele Tabletten mit Wasser einnehmen muss, der ist schon davon satt, also werden die Tabletten freizügig über den Tag verteilt." Nicht selten führt eine solche aus dem Ruder gelaufene Medikation in die Notaufnahme. Laut Studien sind fünf Prozent aller Krankenhauseinweisungen Folgen von nicht korrekter Medikamenteneinnahme. "Besonders gefährdet sind ältere, alleinstehende Männer", sagt von den Akker. Ihnen fehlt die gegenseitige Kontrolle des Partners.

Medikamentenplan führen

"Ohne einen festen Hausarzt, der das alles im Blick hat, bekommt man diese Multimedikation oft nicht in den Griff", sagt Brigitte Ettl. Ihre Empfehlung: Der Hausarzt führt zusammen mit dem Patienten einen sich stets auf dem neuesten Stand befindlichen Medikamentenplan, der für jedes Medikament den Einnahmezeitpunkt, die Dosierung, den Grund und gegebenenfalls die Dauer und den verordnenden Arzt enthält. Und der Hausarzt weiß Bescheid, wann sein Patient zu einem Spezialisten geht, wie die Diagnose dort ausgefallen ist und was er von dort verschrieben bekommt.

So laufen alle Fäden bei ihm zusammen und etwaige Medikationsfehler oder Mehrfachverordnungen fallen auf. Für die Zeit zwischen den Arztbesuchen oder beim Kauf frei erhältlicher Arzneimittel prüft die Stammapotheke anhand seines dort geführten Patientendossiers, ob die verordneten Medikamente miteinander kompatibel sind.

Zwar könne ein elektronisches Patientendossier in Zukunft sicherlich bei der Multimedikation Hilfe leisten. Bis dahin müsse der Patient aber selbst tätig werden – und auch dann werde wohl die elektronische Lösung nie ganz den individuellen Bedürfnissen eines Patienten gerecht werden, denn jede Leber und Niere arbeitet die chemischen Wirkstoffe im Alter unterschiedlich effektiv ab.

Brigitte Ettl: "Der Patient sollte es sich zum Ritual machen, seinen Medikamentenplan bei jedem Arztbesuch mitzunehmen und um jede neue Verschreibung ergänzen zu lassen." Mindestens einmal im Jahr sollte dann der Patient alle seine Medikamente zum Hausarzt mitbringen und mit ihm zusammen den aktuellen Medikamentenplan aufstellen und die Notwendigkeit jedes Medikaments kritisch hinterfragen.

Erstaunlicher Arzneien-Mix

Immer mehr Hausärzte regeln das so mit ihren Patienten und sind regelmäßig überrascht, welcher Medikamenten-Mix bei ihnen auf dem Tisch landet. Zusammen mit dem Patienten prüfen sie, ob ein Medikament überhaupt Wirkung zeigt und für den Patienten noch sinnvoll ist, ob der Nutzen des Medikaments größer als mögliche oder bereits vorhandene Nebenwirkungen ist, ob möglicherweise die Dosis ohne Risiko gesenkt werden kann oder es gar zum jetzigen Medikament eine überlegene Alternative gibt.

Dabei unterstützt die Ärzte die sogenannten Priscus-Liste, sie enthält für ältere Menschen ungeeignete Medikamente und schlägt dafür Alternativen oder auch nichtmedikamentöse Maßnahmen vor. Nach der Besprechung verlassen in vielen Fällen Patienten mit einem schlankeren Medikamentenplan wieder die Praxis. So könnten Säureblocker sehr häufig abgesetzt werden, Cholesterinsenker seien ab einer bestimmen Altersstufe medizinisch nicht mehr erforderlich, Calcium, Vitamin D und Magnesium seien nur bei einem diagnostizierten Mangel sinnvoll.

Grenzwerte ändern sich mit dem Alter

Häufig kann man auch Medikamente weglassen, die eine gar nicht mehr akute oder nur noch mit schwachen Symptomen einhergehende Erkrankung therapieren oder einen für das Alter des Patienten unangemessen strengen Grenzwert erreichen sollen, wie beispielsweise erhöhte Werte von Blutzucker, Cholesterin oder Blutdruck. "Hier muss der Patient mit dem Arzt zusammen besprechen, welches Therapieziel tatsächlich wichtig ist und Priorität besitzt", sagt van den Akker.

Hat der Patient beispielweise nur ein gering erhöhtes Risiko für Herzinfarkt oder Hirnschlag, Muskelschmerzen als Nebenwirkung des Cholesterinsenkers hindern ihn aber, sich regelmäßig zu bewegen, dann wäre eine Dosisanpassung, ein anderes Medikament oder eine Absetzung zu überlegen. Oft könne man auch versuchen, weniger störende Symptome nicht medikamentös zu behandeln, wie beispielsweise bei leichten depressiven Beschwerden mit Entspannungsübungen und viel Rausgehen.

Letztendlich braucht es aber vom Patienten Mut und Zeit, um den Medikamentenplan wenigstens einmal jährlich mit dem Hausarzt abzustimmen, diesen immer zu Ärzten und zur Apotheke mitnehmen, up to date halten und offen zu sein für Versuche, die Medikation zu verschlanken. "Aber der Benefit ist meist, dass diese Patienten zufriedener und gesünder sind, da sie sich auch verstanden fühlen", sagt van den Akker. Keinesfalls aber sollten Patienten in Eigenregie verordnete Medikamente absetzen oder reduzieren. (Andreas Grote, 30.10.2021)