Ich wäre eine schlechte Omi", Helen Urbanek steckt ihren Badge an die Schürze, ruckelt die Schürze zurecht und geht die Stufen zum Eingang hinauf. Dort, vor der Tür, steht eine Menschenschlange. Wartet artig, dass Helen Urbanek ihres Amtes waltet. Helen Urbanek hat zwar keine Enkelkinder, ist jetzt aber Oma. "Oma vom Dienst" steht auf dem Badge der 72-Jährigen – weist die gelernte Schriftsetzerin im Café Vollpension also als "Host" aus.

Urbanek überprüft 3G-Nachweise, führt an Tische, bringt "Begrüßungslimo" – und plaudert. Fragt, ob eh alles passt. Packt, wenn der Service "schwimmt", mit an. Obwohl die, die in der Vollpension kellnerieren, ihre Enkel sein könnten. So wie das Gros der Gäste im Lokal in der Wiener Schleifmühlgasse. Aber in Küche und Backstube werkeln ebenfalls ältere Semester. "Backomas" heißen sie (es gibt auch Opas) – womit das Konzept der Vollpension erklärt wäre.

Karl Theny und Helen Urbanek sind "Hosts" in der Vollpension – um unter Leute zu kommen und etwas dazuverdienen.
Foto: Heriber Corn

David Haller muss bei "Konzept" lächeln: "Meine Oma war für mich wahnsinnig wichtig. Und jeder weiß: Den besten Kuchen macht die Oma." Haller ist 34 und Wiener. Seine Oma (94) lebt in Mödling. Speziell zugewanderte Studierende haben die Oma nicht vor der Haustür. Also wurde Haller 2012 zum "Ominator", gründete mit Freunden die Vollpension – einen Ort, an dem man "wie bei Oma" abhängen kann. Mittlerweile hat die Vollpension zwei Standorte, betreibt eine "Backademie", gibt Backbücher heraus, stellt Torten zu und hat 100 Mitarbeiter. Die Hälfte davon im Pensionsalter.

Für Freud’ und Finanz

Dass Hallers "Generationencafé" vom Pensionistenverband als Beispiel für gelungene Integration von Senioren in die Arbeitswelt zitiert wird, war aber nicht geplant. Keiner der Gründer hatte sich vorab Gedanken über Arbeit im Alter gemacht. Unabhängig davon, ob aus purer Freude am "Unter-Menschen-Sein, statt beim Fernsehen zu vereinsamen" (Helen Urbanek), oder aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. Wie bei Karl Theny. Theny war mit 21 nach Kanada ausgewandert, arbeitete in der Immobilienbranche. Mit 65 kam er zurück und jobbte ("von einer kanadischen Pension kann keiner leben") als Hotelportier. Ein Kollege erzählte von der Vollpension. Das war vor fünf Jahren. Seither ist Theny "Opa vom Dienst": "Wegen der Freude. Und der Finanzen."

Das trifft den Punkt. Von der Ex-Volksschullehrerin, die Deutsch kurse für Migrantinnen gibt, über den Steuerberater-gone-Nikolo -Darsteller bis zu tausenden Freiwilligen, die das Rückgrat sozialer Arbeit in NGOs und Pfarren bilden, reicht das Spektrum bis in die Uni-Hörsäle: Davon, sich aufs "Altenteil" zurückzuziehen, im Park Tauben zu füttern oder sich mit einem Leben zwischen TV-Seniorenklub und Kurcafé zufriedenzugeben, kann keine Rede sein. Werbung und Marketing richten den Wahrnehmungsfokus zwar ausschließlich auf konsumrelevant-aktive "Golden Ager", doch auch im gesellschaftlichen Restalltag ist der Ruhestand längst ein Unruhestand.

Wobei vor "Ager" wahrlich nicht alles "Golden" ist und "jobben" in der "Pense" nicht nur jung halten soll. Altersarmut betrifft in Österreich jeden zehnten der etwa 2,4 Millionen Alterspensionisten. Frauen dreimal so oft wie Männer. Dennoch hat das Dazuverdienen selten erste Priorität. Davon zeugen auch die – wenigen – Zahlen, die es gibt. Pensions-Jobben sei "spürbar, aber noch nicht als Trend messbar", sagt der Arbeits- und Sozialpsychologe Christian Korunka von der Uni Wien. Und Wolfgang Panhölzl, Leiter der Abteilung für das Sozialversicherungswesen bei der Arbeiterkammer Wien, spricht angesichts von lediglich 80.000 versicherungspflichtig und 60.000 geringfügig Dazuverdienenden von einer "statistisch noch nicht relevanten Größe", die aber auch eine positive Schlussfolgerung zuließe: "Auch wenn es bei der Höhe von Frauenpensionen dringenden Handlungsbedarf gibt, zeigt das, dass das Versorgungsniveau grundsätzlich gut ist."

Die Pensi-Studis

Demografisch ist das Potenzial der "Pensi-Jobber" aber ein Wachstumssegment. Heute leben rund 1,7 Millionen über 65-Jährige in Österreich. 2100 sollen es fast drei Millionen sein. Von 1,8 Millionen Wienerinnen und Wienern waren 2018 exakt 311.699 über 65 Jahre alt. 2100, wenn hier 2,3 Millionen Menschen leben werden, dürften es 580.000 sein. Was diese Zahlen nicht sagen, zeigt die Vollpension: Immer mehr "Alte" sind fit, frei und fidel. "Früher gab es drei Lebensphasen: Ausbildung, Beruf und Ruhestand", sagt der Personalentwickler Leopold Stieger, "heute kommt eine vierte dazu. Ich nenne sie ‚Freitätigkeit‘: Wir gehen so gesund in Pension, dass wir meist noch 20 Jahre alles tun können."

Mit 70 Jahren wurde Peter Siebert wieder zum Studenten.
Foto: Thomas Rottenberg

Stieger ist 82. Seine Plattform Seniors 4 Success hilft seit 16 Jahren auf dem Weg zur "Freitätigkeit": "Wer länger arbeitet, lebt länger", denn "wer nichts mehr tut, kommt bald nicht mehr hoch", lautet sein Credo. Nachsatz: Das gilt für Menschen, die das Arbeiten körperlich nicht zerstört hat. Es gehe, betont Stieger, auch nicht um "bezahlt versus unbezahlt", sondern darum, "etwas zu finden, das individuell sinnstiftend ist".

Also um eine Herausforderung. Seniorenstudierende sind grundsätzlich nichts Neues. "Geschichte oder Kunstgeschichte sind bekannt beliebte Treffpunkte für ältere Semester", sagt der ehemalige Dekan des Instituts für Soziologie der Uni Wien, Rudolf Richter. Richter ist 69 und leitet seit 2019 das für ältere Studierende designte "Studium Generale". Bei diesem ersten "nachberuflichen Studium" werden Module kombiniert, die von Artenschutz und Chemie über Molekularbiologie und Wirtschaft bis zu Theologie reichen. "Wer die Komfortzone verlässt, schafft neue Synapsen", sagt Richter, "Kreuzworträtsel reichen da nicht."

Auch für Peter Siebert wären Sudoku und Co nie genug gewesen. Der Jurist, der in Europa und den USA als IT-Coach arbeitete, versuchte es zwar – gestand sich nach zwei Pensionsjahren aber ein, dass "Nixtun, Wandern und Museen" allein nicht glücklich machen: "Ich muss was tun." 2011, mit 70, inskribierte er Kunst geschichte. 2016 kam die erste, 2018 die zweite Bachelorarbeit – und 2018 begann Siebert mit Deutscher Philologie. Derzeit überlegt der nun 80-Jährige ("Ich bin älter als die Großeltern meine Mitstudierenden"), was als Nächstes kommen wird. "Das Vorlesungsverzeichnis ist eine Wunschliste der tollen Möglich keiten." Doch da sei noch etwas. Etwas gesellschaftlich Wichtiges. Weil beim Schlagwort "Diversität" alles nur an Gender und Ethnie denkt: "Es tut allen gut, wenn die Alten nicht nur mit den Alten und die Jungen nicht nur mit den Jungen zusammen sind: Das ist für uns alle erfrischend." (Thomas Rottenberg, 30.10.2021)