Da will einer (Florian Teichtmeister, re.) nur Leberwurst essen – und dann folgt eine Höllenfahrt.

Foto: Matthias Horn

Verhandlungen über die Widmung des zukünftigen Selbstmords: Dietmar König und Florian Teichtmeister (re.)

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Wien – Es ist, als wäre die Addams Family nach Moskau übersiedelt. In Nikolai Erdmans Komödie Der Selbstmörder bewohnen die schwarz gekleideten, mit allem erdenklichen Gothic-Schmuck verzierten lustigen Monstermenschen eine ganz gewöhnliche Kommunalka (Gemeinschaftswohnung) und lassen tief blicken. Denn den vermeintlich bevorstehenden Suizid des Mitbewohners und Titelhelden Semjon Semjonowitsch Podsekalnikov (Florian Teichtmeister) wollen sie nicht in erster Linie verhindern, sondern ihn lieber post mortem für ihre eigenen Interessen beanspruchen.

In der Regie von Peter Jordan und Leonhard Koppelmann am Burgtheater erleidet das Stück – trotz Kürzungen – eine schwerwiegende Zerdehnung, unter der Pointen und Wendungen ausgebremst werden. Viel Leerstand also auf einer Bühne, deren diverse Treppen-Fluchtwege nach unten sowie nach oben immerhin Bewegung schaffen. Es sind indes weitgehend leere Meter. Die herzhaften Kostüme von Michael Sieberock-Serafimowitsch entschädigen ein Stück weit: Tätowierungen, wohin das Auge reicht; Lederklamotten, Netzstrümpfe und -leiberl, schwarze Lippen, schwarze Kreuze und Frisuren, deren Namen erst erfunden werden müssen.

Mooshammer & Elvis

Die zentrale Kritik des 1928 veröffentlichten Stücks: Menschen mit auch noch so guten Absichten lassen für ihre eigenen Anliegen am liebsten andere über die Klinge springen. Bis auf seine eigene Ehefrau Maria (Lilith Häßle) will jeder und jede im Umfeld von Podsekalnikow den Selbstmord in spe für sich verbraten. Pater Elpidius beispielsweise will den Suizid im Namen der Freiheit der Kirche einstreifen. Tim Werths spielt ihn mit faszinierend heuchlerischer Körperlichkeit im Wechsel mit seiner Rolle als bärtige Margarita Iwanowna. Diese sieht ihrerseits aus wie eine Mischung aus Rudolph Moshammer und Elvis Presley.

Ein Mann mit dem denkwürdigen Namen Aristarch Dominikowitsch Grand-Skubik (Dietmar König) möchte den Tod im Namen der unterdrückten Intellektuellen Russlands geltend machen. Der Fleischer (Bardo Böhlefeld) erhofft sich bessere Handelsbedingungen. Und ebenso könnte Kleopatra Maximowna (Alexandra Henkel) für aktuellen Avancen einen dramatischen Liebestod ihretwegen gut gebrauchen. Der typisch russische, nach Gogol-Manier verfertigte fatalistische Humor hat zur Entstehungszeit die sowjetischen Zensurbehörden nicht überlebt – Stalin roch den Braten. Auch der Sozialismus wird eingetunkt – zählt in ihm doch der Mensch nicht als Individuum, sondern lediglich als steuerbare Masse.

1933 deportiert

Meyerholds Uraufführungsinszenierung wurde nach der Generalprobe verboten und Erdman 1933 wegen "konterrevolutionärer Umtriebe" nach Sibirien deportiert. Das Stück blieb daraufhin wie auch die Karriere des Autors jahrzehntelang missachtet. der Autor galt zweitweise sogar als verschollen. Erst 1969 (!) folgte die Uraufführung in Schweden, im Jahr darauf dann, dem Sterbejahr Erdmans, die deutschsprachige Erstaufführung in Zürich.

Das in Deutschland als Komödienspezialisten geltende Regieduo Jordan/Koppelmann verzettelt sich bei seinem Burgtheater-Debüt. Die Witze sind nicht immer so gut wie sie lang ausgewalzt werden (z.B. die Variation mit "sterben vor lachen" von Katharina Pichler als Schwiegermutter). Die Slapsticknummern am Weg zum hinausgezögerten Nicht-Selbstmord halten der Last von zwei Stunden fünfundvierzig nicht stand, auch wenn beispielsweise die Watschen, die der Schießbudenbesitzer (Markus Hering) von seiner eifersüchtigen Margarita Iwanowna (Werths) in regelmäßigen Abständen erhält, phänomenal gut sitzen.

Bonmots für die Ewigkeit

Erdmans je nach Inszenierung mehr oder weniger boulevardeskes Stück gilt nach seinem langen Verschluss heute als fester Bestandteil der europäischen Komödienliteratur. Wie zufällig bringt auch das Volkstheater München nächste Woche eine Neuinszenierung durch Claudia Bossard heraus. Einige Bonmots darin haben das Potenzial für die Ewigkeit: "Früher hatten die Leute eine Idee und wollten dafür sterben. Heute haben die Menschen, die sterben wollen, keine Idee, und die Menschen, die eine Idee haben, wollen nicht sterben. Dagegen muss man kämpfen. Mehr als je zuvor brauchen wir ideologische Leichen."

Dass der Kleinbürger Podsekalnikow gar nie mit einem Revolver am Klo hantiert hat, sondern mit einer Leberwurst, die er, der arbeitslos Gewordene, schamvoll nächtens heimlich verspeisen wollte, ist eine erstklassige Pointe mit erheblicher dramatischer Tragweite. Teichtmeisters also gar nicht suizidaler, sondern nur hungriger Titelheld rafft sich aber mit vollem Ernst auf, die Option auf das Jenseits in Erwägung zu ziehen. Wie einen schwarzen Schatten zieht er die ihm angedichtete Absicht mit und bleibt in dieser Gothic-Parodie somit das tragische Individuum im Spiegel realsozialistischer Verhältnisse. (Margarete Affenzeller, 30.10.2021)