Die scheidende deutsche Bundeskanzlerin hält sich aktuell in Glasgow bei der Cop26-Konferenz auf.

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Die scheidende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in einem ausführlichen Abschiedsinterview in der Sonntagsausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über die Politik zwei wichtige Faktoren hervorgehoben: "Man muss entscheiden. Diese Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt zu treffen, nicht zu früh, aber auch nicht zu spät, das ist vielleicht die größte Herausforderung." Sofort fügte sie hinzu, dass sie "die Wechselwirkung zwischen Zeitgeschichte und Personen spannend" finde: "Welche Rolle spielen die Persönlichkeiten, die Entscheidungen in geschichtlichen Abschnitten treffen?"

Was sei denn eine falsche oder eine gute politische Entscheidung gewesen? "Zum Schluss ist es unglaublich schwer herauszufinden, wer was mit wem gemacht hat", lässt Merkel die Frage offen.

"fatal falsch"

Im Laufe der Zeit habe ich in meinen Kolumnen mehrmals die herausragende Persönlichkeit Angela Merkels gewürdigt. Trotzdem glaube ich, dass die von ihr seit einem Jahrzehnt konsequent vertretene Mischung aus Toleranz, Dialog und Kompromiss gegenüber den autoritären Führungspersönlichkeiten in Polen und Ungarn, Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán "fatal falsch" (so der Princeton-Politologe Jan-Werner Müller) gewesen ist. Ein entschlossenes Auftreten früher gegen den Abbau des Rechtsstaates hätte den Polen und Ungarn und zugleich auch der Europäischen Union viel erspart.

Mit der täglichen Millionenstrafe wegen der Nichterfüllung der Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs durch die polnische Regierung und dem Einfrieren der Zahlungen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds hat der jahrelange Konflikt zwischen der EU und der Warschauer Regierung einen neuen Höhepunkt erreicht.

Es geht nicht nur um Werte, sondern auch um viel Geld: 24 Milliarden Euro an Zuschüssen und zwölf Milliarden an Krediten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat eine Freigabe ohne Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz und ohne die Wiedereinsetzung der unrechtmäßig aus dem Amt entfernten Richterinnen und Richter ausgeschlossen.

Keine "Hexenjagd"

Bei diesen Beschlüssen geht es nicht um eine "Hexenjagd" auf Polen (Viktor Orbán), sondern um eine Verteidigung des polnischen Rechtsstaates, die auch im Interesse aller Europäer liegt. Man darf die um den Machterhalt kämpfende, gespaltene rechtspopulistische Regierung nicht mit der polnischen Nation verwechseln.

Mehr als 90 Prozent der Polen unterstützen die EU-Mitgliedschaft. Polen hat zwischen Mai 2004 und Juli 2021 207 Milliarden Euro von der EU bekommen. Diese Summe beträgt das Zweifache des Budgets für 2021! Sollte Polen auch unter dem seit Anfang des Jahres geltenden sogenannten Rechtsstaatsmechanismus angeklagt werden, könnten auch die Zahlungen aus dem EU-Strukturfonds (bis 2027 121 Milliarden Euro) betroffen sein.

Der luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel nannte Merkel eine "Kompromissmaschine". Sie scheiterte allerdings, weil eine Transferunion ohne rechtliche Kontrollen unzumutbar ist.

Glücklicherweise gibt es in Polen eine starke Zivilgesellschaft (auch aus Richtern und Staatsanwälten) und eine von Donald Tusk, dem früheren EU-Ratspräsidenten, geführte Opposition, die für den Rechtsstaat einstehen. (Paul Lendvai, 2.11.2021)