Zwei wie Pech und Schwefel in Kalifornien: Tom Joad (Sebastian Wendelin, li.) und der Prediger Casy (Martin Hemmer).

Foto: Alex Gotter

Alle Besitzer der Bruce-Springsteen-Platte The Ghost of Tom Joad können der legendären Titelfigur des Albums nunmehr in echt begegnen: Tom, Held des John-Steinbeck-Romans Früchte des Zorns (1939), ist der verlorene Spross einer zwölfköpfigen Sippe. Die Willkür der Bodenherren bringt tiefes Unglück über die Kleinfarmer im Mittelwesten. Es herrscht tiefste Depression; Staub und Plagen treiben die Ärmsten der Armen unbarmherzig weiter, ins gelobte Land Kalifornien. Dieses ist, mit seinem Imperativ zum Pfirsich-Akkordpflücken, kaum weniger abweisend als die heutige Festung Europa.

Im Meidlinger Werk X überlässt der inszenierende Hausherr Harald Posch seinen Steinbeck keinen müßiggängerischen Schriftgelehrten. Das Proletariat seiner Adaption setzt sich aus sieben Vertreterinnen einer Art Schauspiel-Diaspora zusammen. Entsprechend substrathaft ist seine auf 90 Minuten eingeäscherte Steinbeck-Variation. Ein echtes Förderband dient als beschwerlicher Pfad in den "goldenen Westen". Ein Arsenal von Ikea-Taschen symbolisiert den Tand, den die Warengesellschaft wie zum Hohn den Allerschwächsten überlässt (Bühne und Kostüm: Daniel Sommergruber).

Ohne Recht auf Heimat

Hat man sich erst einmal an die etwas bemüht Castorf’sche Machart des Abends gewöhnt, sticht einem eine Reihe Schauspielerinnen angenehm in die Augen. Die Dürre ist eben kein klimatisches Verhängnis, sie zerstört – als eisernes Prinzip der Kapitalverwertung – gleichmäßig alle Lebensbedingungen.

Tom Joad (Sebastian Wendelin), der aus der Haft entlassene Träumer, verkörpert den Exponenten einer Weltpopulation, die nirgends mehr ein Recht auf Beheimatung besitzt. Sie muss daher ihre Würde mehr behaupten als verwirklichen, muss großmäulig auftreten, jammerläppisch sein. Ihm kongenial zur Seite steht der Prediger Casy (Martin Hemmer), dessen Schwatzsucht das eigene, tief empfundene Elend in Plattitüden ertränkt. Zwei famose Figurenskizzen.

Auf einem weißen Plastikabhang gleiten die Vertreter des US-Elends im scharfen Wasserstrahl der Behörden immerzu abwärts: Das Leben unter den Bedingungen globaler Ausbeutung ist eine einzige Rutschbahn. Auch um daran wirkungsvoll erinnert zu werden, bedarf es widersetzlicher Mittelbühnen wie des Werk X. Armut führt zu Totgeburten (berührend: Barča Baxant als Rose of Sharon), sie reizt zu Winterregen und Überschwemmungen, die anno 2021 aus dem Gardena-Schlauch kommen. Kalifornien ist eben nicht unter allen Umständen eine Reise wert. Wien-Meidling eher schon. (Ronald Pohl, 2.11.2021)