Als Aktiver war es Toni Innauer "kein Anliegen, bekannt oder gar ein Vorbild zu sein. Ich wollte nur ein guter Skispringer sein."

Foto: Manfred Weis

In Österreich war es Tennisprofi Dominic Thiem, in Deutschland Fußballspieler Joshua Kimmich – beide haben mit ihrer Impfskepsis eine gesellschaftliche Diskussion ausgelöst, die bis in die höchsten politischen Kreise Widerhall fand. Aber darf man von Sportlern mehr als nur körperliche Leistung erwarten? Oder wird ihre Vorbildfunktion ohnehin überbewertet? Skisprung-Olympiasieger Toni Innauer macht sich Gedanken.

STANDARD: Dominic Thiem ist zuletzt ins Zentrum einer Impfdiskussion gerückt. Warum gerade ein Sportler?

Innauer: Der Sport ist Unterhaltung. Aber er hat klare Spielregeln, er wird mit Ernsthaftigkeit betrieben. Deshalb nimmt man ihn, seine Protagonisten und deren Aussagen ernst. Vielleicht ernster als Menschen aus anderen Lebensbereichen. Vielleicht manchmal zu ernst.

STANDARD: Sportler ordnen ihrer Tätigkeit alles unter. Nebenbei sollen sie den Planeten retten. Erwarten wir zu viel?

Innauer: Sportler sind Spezialisten.Thiem gehört in seinem Rechteck zu den Weltbesten. Aber muss er deshalb eine vorbildliche und vernünftige Einschätzung aller anderen Themen haben? Das ist eine Überforderung. Ein Sportler kann nicht zu allem eine wissenschaftlich gestützte Meinung haben.

STANDARD: Es stehen Olympische Spiele in China und eine Fußball-WM in Katar an. Dürfen wir im kommenden Jahr von den Profis eine politische Meinung erwarten?

Innauer: Ein Profi hat nicht die Mission, gegen politische Verhältnisse Sturm zu laufen. Sportler sind keine Aktivisten. Diesen Auftrag kann und darf man ihnen nicht umhängen. Es gibt wenige, die den Überblick und die Lebenserfahrung haben, um einen vernünftigen Beitrag zu leisten. Und jede Aussage kann eine Lawine auslösen.

STANDARD: Wollen Sportler überhaupt Vorbilder sein?

Innauer: Der ehemalige Bayern-Spieler Paul Breitner nannte eines seiner Bücher Ich will kein Vorbild sein. Die Crux bei der Prominenz ist, dass eine Meinung oft als Empfehlung interpretiert wird. Thiem setzt sich für den Schutz der Ozeane oder für bedrohte Tierarten ein. Er rät aber niemandem von einer Impfung ab.

STANDARD: Raten Sie dazu?

Innauer: Ich wurde kürzlich von jemandem angeschrieben und beflegelt, weil ich angeblich die Impfung empfohlen hätte. Der Mensch muss mich verwechselt haben. Ich bin geimpft, das ist für mich eine Selbstverständlichkeit, ich bin viel unter Leuten. Ich will meine Meinung aber niemandem aufdrängen.

STANDARD: Trotzdem werden Sie wie Thiem gehört. Ist man als Sportler oder Ex-Sportler Vorbild wider Willen?

Innauer: Man wird passiv zum Vorbild erklärt. Das lässt sich nicht verhindern. Weil es den Menschen gefällt, wie man Aufgaben löst. Das ist im Sport für Außenstehende gut nachvollziehbar. Man sieht nicht nur den Erfolg, sondern auch den Weg dorthin.

STANDARD: Haben Sie gemerkt, dass Ihr Wort als Olympiasieger plötzlich mehr Gewicht hatte?

Innauer: Wenn man erfolgreich ist, hören die Leute interessierter zu. Im eigenen Team und in der Öffentlichkeit. Man schreckt sich, wenn in den Medien etwas missverständlich publiziert wird. Mir war es kein Anliegen, bekannt oder gar ein Vorbild zu sein. Ich wollte nur ein guter Skispringer sein.

STANDARD: Kann es überhaupt vorbildlich sein, unter hoher Verletzungsgefahr mit Skiern über einen Berg zu fliegen?

Innauer: Es ist vorbildlich oder inspirierend zu zeigen, wozu der Mensch fähig ist, wenn er sein Leben auf ein Thema fokussiert. Das gilt nicht nur für den Sport, sondern auch für die Kunst, die Wissenschaft. Im Grunde gilt es für jeden, der einen Lebensabschnitt intensiv mit Scheuklappen verbringt.

STANDARD: Also geht es in der Vorbildfunktion gar nicht um die sportliche Tätigkeit?

Innauer: Es geht darum, tief in ein Phänomen einzudringen. Dafür gibt es den Begriff der produktiven Einseitigkeit. Das brauchen wir als Gesellschaft. Ob im Sport oder in der Raumforschung. Das bringt uns weiter. Der Mensch ist nicht unbedingt ein Generalist.

STANDARD: Heißt produktive Einseitigkeit auf Österreichisch "Fachtrottel"?

Innauer: Das haben Sie gesagt. Der Profisportler hat nicht ewig Zeit. Vielleicht sind es fünfzehn Jahre. In diesem Zeitraum muss er sich fokussieren, seine Energien bündeln. Im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Bereichen gelten im Sport strikte Regeln, die Leistung muss vergleichbar sein. Fairness ist die schönste Botschaft des Sports.

STANDARD: Auch der Sport hat keine weiße Weste. Es wird betrogen und getrickst. Wird er idealisiert wahrgenommen?

Innauer: Der Spitzensport hat Schattenseiten. Aber er verfügt über Kompetenz. Es geht um den Körper, um Leistung, um Widerstandsfähigkeit. Der Sport ist ein Versuchslabor in Sachen Erholung und Belastbarkeit. Manches lässt sich in den Alltag übertragen.

STANDARD: Steht der Sport für eine Optimierung der Gesundheit?

Innauer: Nein, er steht für eine Optimierung der Leistungsfähigkeit. Das ist heutzutage eine Währung. Gesundheit ist im Profisport nicht die erste Intention. Sehen Sie sich die Anzahl der Verletzungen an. Dass der Spitzensport nicht zwangsläufig gesund sein muss, hat sich herumgesprochen.

STANDARD: Auch Thiem hat sich verletzt. Gehört ein Rückschlag zu einer guten Biografie?

Innauer: Viele österreichische Sportler haben sich nach Rückschlägen wieder in die Weltspitze zurückgekämpft. Niki Lauda, Thomas Muster, Hermann Maier. Dominic Thiem könnte der Nächste sein. Bewältigt der Sportler Widrigkeiten, wird er erst recht zum Vorbild. Dann wirkt er menschlicher. Dann ist er einer vor uns. (Philip Bauer, 2.11.2021)