Unmittelbar nach dem Wiener Terrorattentat vor einem Jahr hatten Österreich und Frankreich angekündigt, mehr für eine effiziente Terrorbekämpfung in Europa tun zu wollen. In der Vorwoche machte Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) einen entsprechenden Schritt und empfing zuständige Minister, Ministerinnen und Extremismusexperten aus mehreren europäischen Ländern. Beim sogenannten Vienna Forum für die Themen Segregation und Extremismus, das künftig jährlich stattfinden soll, präsentierte die französische Ministerin für Staatsbürgerschaft, Marlène Schiappa, auch die aktuelle französische Strategie: das in Frankreich nicht unumstrittene Separatismusgesetz.

Marlène Schiappa (39) ist seit 2017 im Kabinett Macron tätig: erst als Staatssekretärin für Gleichstellung und seit 2020 als beigeordnete Ministerin für Staatsbürgerschaft.
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STANDARD: Was eint Frankreich und Österreich im Kampf gegen Extremismus und Radikalisierung?

Schiappa: Wir stehen einer gemeinsamen Bedrohung gegenüber: dem atmosphärischen Jihadismus, der sozusagen in der Luft liegt. Im Gegensatz zum organisierten Jihadismus, den es weiterhin gibt, beschreibt dieser das Phänomen, dass sich Leute alleine vor ihren Bildschirmen radikalisieren. Ein Beispiel ist der 18-jährige Attentäter, der vor einem Jahr den Lehrer Samuel Paty in einem Pariser Vorort mit einem Messer auf offener Straße enthauptete. Zugleich droht auch eine Spaltung in der Bevölkerung: Die Jihadisten wollen Muslime gegen den Rest der Gesellschaft ausspielen. Wir müssen daher zwischen den Millionen Muslimen unterscheiden, die im Einklang mit unseren Werten und Gesetzen leben, und jenen, die Religion instrumentalisieren, um eine Vision der Gewalt und der Zerstörung unserer Gesellschaft umzusetzen.

STANDARD: Als der Wiener Attentäter am 2. November 2020 zuschlug, waren die Sicherheitsbehörden mit der Planung von Razzien bei mutmaßlichen Muslimbrüdern beschäftigt. Was ist die größere Bedrohung: Jihadismus oder politischer Islam?

Schiappa: Sie bestärken einander. Der politische Islam strebt nach einem System, in dem die Scharia zum Gesetz wird und bestimmt, wie wir leben. Der Jihadismus versucht, das mit Gewalt umzusetzen.

STANDARD: Frankreich wurde in den vergangenen Jahren immer wieder vom Terror erschüttert. Was bringen Europas strengste Antiterrorgesetze?

Schiappa: Frankreich gehört zu den am meisten attackierten Ländern. Seit 2017 haben wir 36 Terrorangriffe vereitelt – dank der Arbeit unserer Geheimdienste. Die Schwierigkeit ist, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die keine Angst vor dem Tod haben. Es gibt kaum Chancen, sie von ihren Vorhaben abzubringen. Man muss also den Nährboden des Terrorismus bekämpfen, und das ist die Ideologie des Separatismus.

STANDARD: Was ist mit Separatismus gemeint?

Schiappa: Separatistische Ideologien, von denen der radikale Islamismus heute die gefährlichste Form ist, zielen darauf ab, den allgemeinen Rahmen unseres gesellschaftlichen Lebens zu zerstören. Der basiert auf Prinzipien wie Demokratie, Gleichberechtigung von Frauen und Männern und Menschenrechten. Die Anwendung dieser Grundsätze darf nicht von Herkunft, Religion oder Hautfarbe abhängen. Das wäre gefährlich. Als Feministin sehe ich etwa nicht ein, dass Gesetze mich, eine weiße Pariserin, vor Genitalverstümmelung und Polygamie schützen, aber andere Frauen nicht.

STANDARD: In Frankreich steht der Separatismus im Fokus, in Österreich ist es der politische Islam. Dieser meint Akteure, die ein Interesse an politischer Partizipation haben. Sind das nicht zwei verschiedene Sachen? Und ist Religion, die sich für politische Teilhabe interessiert, immer problematisch?

Schiappa: Auch wenn wir unterschiedliche Begriffe verwenden, zielen unsere Maßnahmen auf das Gleiche ab: jene Ideologie, auf die sich so viele Gewaltakte berufen. Politischer Islam oder radikaler Islamismus, wie wir ihn nennen, ist nicht immer gewalttätig, aber jihadistischer Terror zehrt davon. Frankreich hält jedenfalls an der Laizität fest, der Trennung von Staat und Kirche. Der Staat darf keinen Kultus anerkennen oder subventionieren, und keine Kirche darf Gesetze diktieren.

STANDARD: Welche konkreten Maßnahmen halten Sie für wirksam?

Schiappa: Ich habe in Wien unser neues Seperatismusgesetz vorgestellt, weil es erlaubt, Kultstätten zu schließen. Ich denke da an Vereine, in denen der Fall Kabuls bejubelt wird oder Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit gepredigt werden – von ihnen geht eine große Gefahr der Indoktrinierung aus. Mal sind es harmlos wirkende Sportclubs, mal illegale Privatschulen, wo nur vollverschleierte Mädchen unterrichtet werden. Weil Frauen die ersten Opfer des radikalen Islamismus sind, gibt es im Gesetz mehrere Maßnahmen zu ihrem Schutz: Ausländern, die in Polygamie leben, kann die Aufenthaltsgenehmigung entzogen werden, und Jungfräulichkeitszertifikate und die explizite Enterbung von Töchtern wurden untersagt.

Für die französische Ministerin Marlène Schiappa stimmt der Diskurs, man sei in Frankreich als Muslim nicht sicher, nicht.
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STANDARD: Auf dem Forum war auch die Finanzierung islamistischer Vereine aus dem Ausland Thema. Ministerin Raab nannte explizit die Türkei. Welche Länder sind Ihrer Ansicht nach besonders problematisch?

Schiappa: Die Frage, die wir uns primär stellen, ist nicht, aus welchen Ländern das Geld kommt, sondern zu welchem Zweck. Das ist eine Sorge vor allem muslimischer Vertreter, die einen französischen Islam wollen, sprich: Imame, die auf Französisch und im Einklang mit den Gesetzen predigen. Daher muss ausländische Finanzierung per Gesetz nun transparenter gestaltet werden, und Imame, die aus dem Ausland finanziert werden, dürfen nicht mehr in Frankreich wirken.

STANDARD: Viele Muslime fühlen sich, als stünden sie unter Generalverdacht. Zu Recht?

Schiappa: Keinesfalls. Franzosen, die den Islam praktizieren, werden vom Staat beschützt. Außerdem sind Muslime die ersten Opfer des islamistischen Terrors. Denken Sie an all die Menschen, die vor der IS-Terrormiliz im Irak oder in den 1990er-Jahren aus Algerien vor dem Terror geflohen sind. Das ist auch eine Gefahr des radikalen Islamismus: Er schreibt vor, wie Muslime zu leben und zu denken haben. Und dass sie sich eben als Opfer zu fühlen haben. Wir bekämpfen den Islam aber nicht. Das ist eine Lüge. Islamisten versuchen zu Gewaltakten zu bewegen, indem sie sagen: "Schaut her, der Staat will euch nicht." Dazu wurden etwa Reden von Präsident Emmanuel Macron bewusst falsch übersetzt. Obwohl er vom Kampf gegen den Islamismus sprach, sollten die Übersetzungen den Anschein erwecken, er spreche vom Kampf gegen den Islam. Das zeigt, wie heikel die Begriffswahl ist. Es darf keinen Zweifel daran geben, dass wir nicht die Religion, sondern eine politische Ideologie bekämpfen.

STANDARD: In Frankreich sind islamophobe Taten allerdings im Anstieg.

Schiappa: Die französische Gesellschaft ist stark durchmischt: Wir sind beispielsweise eines der Länder mit den meisten gemischten Ehen. Darauf sind wir stolz. Hassverbrechen gegen Muslime werden strikt geahndet. Aber der Diskurs, man sei in Frankreich als Muslim nicht sicher, stimmt nicht. Das ist ein Diskurs des politischen Islam und dient dazu, junge Muslime für islamistische Ideen zu gewinnen. In Frankreich wurde kein Muslim getötet, weil er Muslim ist – im Gegensatz zu zwölf Juden seit dem Jahr 2000. Das ist inakzeptabel, deshalb haben wir uns auch dem Kampf gegen den Antisemitismus verschrieben. (Flora Mory, 2.11.2021)