Die texanische Sopranistin Rebecca Nelsen ist Ensemblemitglied der Volksoper Wien und singt nun die Proserpina der Neuen Oper Wien.

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Das kennt man ja: Manchmal hat man das Gefühl, in einem tiefen, dunklen Loch zu stecken. Die Stimmung ist im Keller, grottenschlecht, unterirdisch. Davon kann Proserpina eine Kammeroper singen. Die Tochter Jupiters und der Erdgöttin Ceres ist in die Unterwelt verschleppt worden. Immerhin als Königin dieses Reichs der tausend Schatten – aber ist das ein Trost? Pluton hat seine Nichte hierher entführt. Vorbei das Leben in lichter Leichtigkeit.

Im Theater Akzent hat die Bühnenschicksalsgöttin aka Regisseurin Anna Bernreiter Proserpina im Auftrag der Neuen Oper Wien in einen Graben verbannt, in den Orchestergraben. Grauenhaftes Grau überzieht dort eine häusliche Bleibe aus Wänden, Büchern, Tisch und Stühlen; einzig Seerosen in einem Wasserbecken und Proserpinas Kleid erinnern an ihre blühende Zeit in Freiheit (Bühne: Hannah Rosa Öllinger und Manfred Rainer; Kostüme: Devi Saha).

One-Woman-Show

Kamerabilder, sowohl live als auch zugespielt, gewähren dem Publikum Einblick in den engen Bunker. Auf einer semitransparenten Leinwand, hinter der das auf der Bühne platzierte Orchester schemenhaft zu erkennen ist, sieht man Proserpina (oder Persephone, wie sie im griechischen Mythos genannt wird) singend verzweifeln, hadern, wüten: oft in Großaufnahme und also beklemmend nah. Rebecca Nelsen bietet im Untergrund eine furiose One-Woman-Show, zu der Johann Wolfgang von Goethe 1777 das Skript (genauer: das Monodrama) und Wolfgang Rihm 2009 die Klänge ersonnen haben.

Rihm beginnt karg, ein zwölfkehliger Frauenchor (Damen des Wiener Kammerchors als Parzen) aaaaaaht ausgiebig, das Amadeus Ensemble Wien steuert unter der Leitung von Walter Kobéra kleine Sekunden und noch Kleineres bei. Die Dinge nehmen Fahrt auf, tonale Gefilde werden gestreift, fröhliche Sextparallelen schnell wieder eingetrübt. Erzählt Proserpina von Rossen, wird trompetet, schwärmt sie vom Thron des Vaters, wird Rihm zum Enkel Richard Strauss‘ und prunkt mit güldenem Klanggeschmeide.

Komponierter Orgasmus

Proserpinas (verbotene) orale Aufnahme eines Granatapfels inspiriert den Tonsetzer zu einem auskomponierten Orgasmus der subtilen, aber umso effektvolleren Art.

Der deutsche Meister hat die Partie ursprünglich der famosen Mojca Erdmann auf die Gurgel geschrieben, aber auch Rebecca Nelsen bekommt sie souverän hin, die zahlreichen Koloraturkunststückchen, die ewig sich windenden Kantilenen, das Um-die-Wette-Zwitschern mit den Holzbläsern. Der schlanke Sopran des texanischen Volksopern-Juwels bleibt in dieser gut einstündigen vokalen Tour de Force immer weich und wendig.

Am Ende sind zwar ein paar verschreckte Akzent-Abonnenten aus dem Saal geflohen, doch der Rest des Publikums feiert die Sopranistin und auch alle anderen Mitwirkenden mit heller Freude. Proserpina hat es zumindest pünktlich zum Applaus heraus aus ihrem Loch geschafft, mögen allen verzweifelten Normalsterblichen ähnliche Aufstiege gelingen. (Stefan Ender, 2.11.2021)