Ist es falsch, Inhaftierte im Gefängnis zu bestrafen? Diese Frage stellte der Neurokriminologe Adrian Raine kürzlich im Wiener Volkstheater bei der wieder aufgenommenen Veranstaltungsreihe TEDx Vienna. Den Drang nach Vergeltung dürften vor allem Menschen, die Opfer einer Straftat geworden sind, nachempfinden können. Wie Raine selbst, der im Urlaub eines Nachts einen Einbrecher davon abhielt, ihn mit einem Messer anzugreifen.

Auge um Auge, Zahn um Zahn? Das fragt sich der Forscher auch. Sogar in dieser biblischen Formulierung, die auf seine Erziehung durch Nonnen und Priester in einer katholischen Schule zurückgehen dürfte. Mit 15 wurde er Agnostiker. Und später, als Wissenschafter, stellte Raine fest, dass es doch nicht so einfach ist mit der Vergeltung – und dass sogar er selbst Potenzial zum Serienkiller hätte, wenn man seinen Hirnscan als Ausgangspunkt nimmt.

Hirnscans von Mördern, so das Ergebnis einer seiner Studien, weisen oft ein besonderes Muster auf. Sie sind zwar nicht "als Mörder geboren", wie die deutsche Titelübersetzung von Raines Buch "The Anatomy of Violence" fälschlicherweise suggeriert. Doch die Hirnanatomie spielt neben anderen Faktoren eine wichtige Rolle im Umgang mit Aggressionen. Können Verbrecher etwas für ihre ungewöhnlich großen oder kleinen Emotionszentren? Ein Gespräch über Gerechtigkeit, Trauma und Prävention im Kindesalter.

STANDARD: Gibt es biologisch unterschiedliche Veranlagungen für verschiedene Straftaten?

Raine: Ja. Bei Psychopathen ist die Amygdala in Struktur und Funktion beeinträchtigt, was für das kaltblütige Verhalten sorgen könnte. Die Amygdala befindet sich tief im Gehirn und generiert Gefühle. Bei Personen, die ihre Partner missbrauchen, sehen wir das Gegenteil: Die Amygdala ist überaktiv. Aber der präfrontale Cortex funktioniert schlecht. Dieser sitzt hinter der Stirn und kontrolliert normalerweise Emotionen und impulsives Verhalten. Er ist wie ein Schutzengel des Verhaltens, doch wenn er schläft, kann der Teufel hervorkommen und Menschen können verletzt werden.

In einer Studie untersuchte Raine durchschnittliche Unterschiede zwischen den Gehirnen von Mördern (rechts) – und Menschen, die nicht mordeten (links). Im vorderen (hier oberen) Bereich ist ein großer Unterschied zu erkennen. Der präfrontale Cortex, der impulsives Verhalten reguliert, ist bei Mördern im Schnitt viel weniger aktiv.
Bild: Raine et al. 1994, Biological Psychiatry

STANDARD: Sie haben vor allem die Gehirne von Mördern untersucht.

Raine: Auch Mörder haben im Schnitt einen eingeschränkten präfrontalen Cortex. Es gibt bisher keine gute Studie mit bildgebenden Verfahren, die die Hirne von Serienmördern analysiert. Aber bei den Einzelfällen, die ich bearbeitet habe, zeigt sich: Ihr Gehirn unterscheidet sich sehr von dem eines Einzeltäters.

STANDARD: Inwiefern?

Raine: Ein Mann tötete 64 Menschen in einem Zeitraum von zwölf Jahren und wäre beinahe nicht gefasst worden. Er hatte einen sehr gut funktionierenden Frontallappen. So konnte er planen und sein Verhalten kontrollieren.

STANDARD: Solche Unterschiede zu "normalen" Gehirnen gelten aber nicht für jeden Mörder.

Raine: Genau, bildgebende Verfahren sind dabei keine Diagnoseverfahren. Ein Individuum hatte einen Hirnscan, der dem Serienmörder-Scan sehr ähnlich sah. Dieses Individuum war ich. Was wäre also, wenn wir mit solchen Methoden das Kainsmal identifizieren könnten, bevor ein Verbrechen begangen wird, wie im Film "Minority Report"? Ich wäre wohl der erste, der eingesperrt wird!

STANDARD: Vielleicht würden Ihnen neben dem psychologischen Faktor aber genetische, soziale oder Umwelt-Risikofaktoren fehlen.

Raine: Das stimmt. Wir sprechen immer von Wahrscheinlichkeiten und individuellen Hinweisen. Ich bin überzeugt davon, dass es nie perfekte Voraussagen geben wird.

STANDARD: Auf Ihrem Gebiet müssen Forschende oft vorsichtig sein, nicht in biologischen Determinismus zu verfallen, der ja auch historisch vorbelastet ist. Ihnen wurde mitunter vorgeworfen, zu "versuchen, biologische Gründe für soziale Probleme zu finden".

Raine: Aber es liegt eben nicht nur an sozialen Faktoren. Es sind zwei Seiten einer Münze. Die soziale Seite ist sehr wichtig und wurde über Jahrzehnte untersucht. Aber wir dürfen die biologische Seite nicht ignorieren, die die andere Hälfte ausmacht. Es gibt nun unbestreitbare Beweise dafür, dass Kriminalität und Gewalt eine bedeutende biologische Grundlage haben.

STANDARD: Ist es wirklich so einfach, zu sagen, es liege zu 50 Prozent an der Biologie und zu 50 Prozent an sozialen Faktoren?

Raine: Absolut. Es gibt hunderte Studien zu Zwillingen und adoptierten Kindern, die mittlerweile über begründete Zweifel hinaus dokumentieren: 50 Prozent der Variation, wer von uns aggressiv und antisozial ist, kann auf genetische Faktoren zurückgeführt werden.

STANDARD: Man weiß, dass Mutationen des MAO-A-Gens für aggressives Verhalten sorgen können. Wie beeinflusst dies die Gehirnfunktion?

Der Neurokriminologe Adrian Raine.
Foto: Peter Venables

Raine: Es stört den Serotoninhaushalt. Serotonin ist ein Neurotransmitter, der auch mit impulsiver Gewalt korreliert. Das ist eine relativ komplexe Geschichte. Etwa ein Drittel der Bevölkerung hat ein Gen, das mit niedrigen MAO-A-Leveln zusammenhängt. Wenn dieser Genotyp mit einem gewalttätigen Elternhaus zusammenfällt, kommt es vermehrt zu Aggression und antisozialem Verhalten. Diese Studien verdeutlichen: Es sind nicht nur die Gene – und es ist nicht nur die Umwelt. Aber wenn von beiden Seiten die Voraussetzungen zusammenkommen, kann Gewalt auftreten. Das ist wie beim Mischen zweier Chemikalien. Wenn sie voneinander getrennt sind, passiert nichts. Doch kippt man sie zusammen, kommt es zur Explosion – hier: zu einer explosiven Zunahme an Gewalt.

STANDARD: Auch der Bereich der Epigenetik zeigt, wie Biologie und Umfeld zusammenspielen: Umwelteinflüsse können verändern, wie unsere DNA abgelesen wird.

Raine: In der Tat, epigenetische Prozesse können auch Verhalten verändern. Die soziale Umwelt sorgt für einige Risikofaktoren, die zu einem Anstieg von Verbrechen führen. Kinder mit Mangelernährung haben ein höheres Risiko, später kriminell und antisozial zu werden. Kopfverletzungen sind ein anderes Beispiel: Hirntraumata können zu zwei- bis dreifach erhöhter Gewaltbereitschaft führen.

STANDARD: Eine Frage zu einer anderen Art von Trauma: Wie beeinflusst psychische Traumatisierung das Gehirn?

Raine: Chronischer oder traumatischer Stress führt zu erhöhtem Cortisollevel. Cortisol ist ein Hormon und geradezu toxisch für bestimmte Zellen im Hippocampus. Das ist ein Teil des Gehirns, der – zumindest in Tieren – aggressives Verhalten kontrolliert, aber auch für Lernen und Erinnern wichtig ist. Wächst ein Kind mit viel traumatischem Stress auf, kann das zu schlechten schulischen Leistungen führen und das wiederum zu Schwierigkeiten, einen Job zu finden.

STANDARD: Wie kann man solchen Risikofaktoren entgegenwirken?

Raine: Die wichtige Botschaft ist hier: Biologie ist nicht Schicksal. Es gibt Wege, das Gehirn zu verändern, um Verhalten zu ändern. Sport kann im Gehirn zur Bildung von Neuronen führen. Bessere Ernährung, etwa durch Omega-3-Fettsäuren, kognitive Stimulation, Powernaps – all das kann das Hirn stärken.

Ist es gerecht, Menschen ins Gefängnis zu stecken, denen es aufgrund genetischer und äußerer Faktoren schwerer fällt, Straftaten nicht zu begehen? Raines Antwort: Nein – aber wir müssen die Gesellschaft vor Schwerverbrechern schützen.
Foto: SPmemory / Getty Images / iStockphoto

STANDARD: In welchem Ausmaß?

Raine: Das wird nicht jede Person verändern. Die Effekte sind klein, aber statistisch aussagekräftig. Ich glaube, eines der besten Dinge, die eine Gesellschaft zur Senkung von Gewalt und Verbrechen tun kann, ist, in die ersten Lebensjahre von Kindern zu investieren.

STANDARD: Welche Folgen könnte Ihre Forschung für das Rechtswesen haben?

Raine: Wir wissen beispielsweise, dass der Konsum von Alkohol und Zigaretten während einer Schwangerschaft toxisch für die Hirnentwicklung ist. Geburtskomplikationen, Mangelernährung, Missbrauch – all diese Faktoren, die noch nicht einmal Genetik einschließen, können dazu beitragen, dass ein Mensch später Straftaten begeht. Die große Frage ist: War das Kind verantwortlich für diese Faktoren? Nein. Werden wir es später für die Verbrechen, die es begeht, zur Verantwortung ziehen? Ja. Ist das Gerechtigkeit? Für mich fühlt sich das nicht gerecht an.

STANDARD: Es gibt Organisationen, die sich für die Abschaffung von Gefängnissen einsetzen. Unter anderem weil Menschen nach der Entlassung oft nicht aus der Abwärtsspirale herauskommen. Wie sehen Sie das?

Raine: Meine Antwort darauf ist keine wissenschaftliche – denn hier geht es um die Frage, wie wir Forschung anwenden, und dazu kann jeder eine andere Perspektive haben. Ich würde sagen, wir brauchen Institutionen, die die Gesellschaft schützen. Wir sollten in Betracht ziehen, Täter nicht in solch brutale Umgebungen wie Gefängnisse zu stecken. Stattdessen könnten wir diese ersetzen durch Sicherheitsspitäler, in denen Intervention und Behandlung viel stärker im Vordergrund stehen. (INTERVIEW: Julia Sica, 3.11.2021)