Peter Kurth deckt als Anwalt Richard Schlesinger in "Ferdinand von Schirach: Glauben" den größten Justizskandal Deutschlands um Kindesmissbrauch auf.

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Der Arzt hat die Patientin gründlich untersucht, er hat sie abgetastet, einen Abstrich gemacht. Die Assistentin hat das Mädchen von allen Seiten fotografiert. Bilder und Eindrücke lassen für den Mediziner nur eine Schlussfolgerung zu: "Es handelt sich jenseits sinnvollen medizinischen Zweifelns um einen Zustand nach chronischem, sexuell penetrierendem Missbrauch."

Dieser Satz steht am Anfang von Ferdinand von Schirachs Serie "Glauben", und es ist diese Falschdiagnose, aus der schließlich der größte deutsche Justizskandal um Kindesmissbrauch wird. Der Arzt irrte, Menschen saßen jahrelang unschuldig in Gefängnissen, ihre Leben und die ihrer Kinder wurden zerstört. Den Kindesmissbrauch hat es nie gegeben. Schlamperei, Vorverurteilungen, Gesinnungswahn, blinder Hass führten zu dem Fehlurteil. In die Geschichte ging der Fall als "Die Wormser Prozesse" ein. Die RTL-Produktion erzählt die Story anhand eines fiktiven Anwalts.

Worum es geht:

Die Wormser Prozesse sind drei Strafprozesse, die von 1993 bis 1997 vor dem Landgericht Mainz geführt werden. Darin sind 25 Personen aus Worms und Umgebung angeklagt. Sie sollen Kinder massenhaft missbraucht und einen Pornoring betrieben haben. Ausgangspunkt der Klagen war der Sorgerechtsstreit eines Paares. Wie sich nach Untersuchungen der Fälle herausstellte, beruhten die Beweise alleine auf den Aussagen der Kinder und dem Gutachten eines Kinderarztes.

Die Kinder wurden mit Suggestivfragen zu Aussagen gedrängt. Der Arzt ließ etwaige andere körperliche Ursachen für Verletzungen unberücksichtigt. Die Staatsanwaltschaft erlaubte sich unverzeihliche Fehler. So wurde zum Beispiel übersehen, dass Kinder nicht mehr von bereits verhafteten Personen missbraucht werden konnten. Oder dass ein anderes Kind noch gar nicht geboren war, als es schon geschändet worden sein soll. Die Rede war von einem "Amoklauf der Staatsanwaltschaft". Doch nicht nur sie lief Amok: Medien berichteten in voreingenommener Weise, die Unschuldsvermutung war außer Kraft gesetzt.

Den Urteilsspruch begann der Vorsitzende Richter Hans E. Lorenz in "Worms III" mit dem Satz: "Den Wormser Massenmissbrauch hat es nie gegeben." Der Prozess endete mit dem Freispruch aller Beschuldigten. Das Leid dieser Menschen ist nicht wiedergutzumachen.

Ein weiterer tragischer Aspekt betrifft die vermeintlich missbrauchten Kinder. Diese wuchsen größtenteils in Heimen auf, sechs von ihnen kamen in das Kinderheim Spatzennest, wo es zu Vorwürfen kam, ein Heimleiter habe sie bewusst gegen die Eltern aufgestachelt. 2008 wurde der Heimleiter wegen Verdachts auf sexuellen Missbrauch festgenommen und zu einer Haftstrafe verurteilt.

Die Serie:

Die siebenteilige Serie nach dem Drehbuch von Ferdinand von Schirach und der Regie des Österreichers Daniel Prochaska steigt im zweiten Jahr der Prozesse ein. Erzählt wird zunächst die Geschichte des fiktiven Anwalts Richard Schlesinger (Peter Kurth), eines hervorragenden, aber mit dem Leben ziemlich fertigen Strafverteidigers, der anfangs mehr mit Schulden und Suff als mit Recht und Ordnung zu tun hat.

Das hat ein paar Platzwunden zur Folge und einen guten Vorsatz: Besserung ist angesagt. Schulden begleichen, einen Goldfisch erwerben, staubsaugen – sich niederlassen, häuslich werden, wieder zu arbeiten beginnen. Der Fall? Kein kleiner. Worms wartet. Schlesinger vertritt den Angeklagten und beginnt nachzuforschen. Sein Triumph vor Gericht ist mit Schmerzen verbunden.

Was es kann:

Mit Akribie und – vielleicht manchmal auf Kosten der Spannung gehender – Detailtreue wird dieser Fall von einem sehenswerten Ensemble nacherzählt, allen voran natürlich Peter Kurth, außerdem Narges Rashidi, Sebastian Urzendowsky und Desirée Nosbusch. Wenn man allerdings die Qualität eines Films, einer Serie daran bemisst, wie sehr sie dem Zuschauer, der Zuschauerin Gestaltungsfreiraum für eigene Interpretationen und Spekulationen gibt, dann hat "Glauben" diesbezüglich eindeutige Schwächen. Hier wird alles gezeigt, erzählt, besprochen, erklärt – beispielsweise in langen Fallgesprächen über Moral und Recht zwischen Schlesinger und der vom Missbrauch überzeugten Psychologin, um nur ein Beispiel zu nennen.

Es dauert außerdem ein wenig, bis das Ganze in die Gänge kommt. Die ersten zwei Folgen sind wie ein Prolog zu sehen, mit den persönlichen Problemen des Anwalts, der dann auf sehr vife Art einen anderen Fall löst. Man fragt sich, wozu es das braucht. Hoffentlich nicht, um ein Thema zu strecken, zu dem den Serienmachern die Bilder fehlten.

Durchaus stimmig sind die protokollartigen Dialoge, die von den Figuren fast abgehackt gesprochen werden: "Ich war es nicht. Ich habe meinen Mann geliebt." – "Man kann jemanden lieben und trotzdem töten." – "Sie sind ein komischer Mann." – "Vermutlich haben Sie recht." Die Sätze sollen für sich sprechen, auch in Schirachs Büchern lesen sie sich so.

Zu sehen wann und wo:

Ab Donnerstag sind die sieben Folgen auf der Streamingplattform von RTL abrufbar. Die nennt sich ab genau diesem Tag nicht mehr TV Now, sondern RTL plus. Am 1. Dezember startet "Glauben" im Free-TV bei Vox. Im Anschluss an das Finale steht die Dokumentation "Empörung – Der Skandal von Worms" auf dem Programm. Bei RTL plus ist sie ebenfalls ab Donnerstag abrufbar. (Doris Priesching, 4.11.2021)