Viele Orte im Osten der Ukraine sind immer noch zerstört und werden auch nicht wieder aufgebaut – hier ein Vorort von Donezk. Weitere Zerstörungen und den Verlust von Menschenleben soll die Waffenruhe verhindern. Doch sie wird immer brüchiger.

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Waffenruhe war einmal: Im Donbass wird wieder geschossen. Beide Seiten werfen sich massive Verstöße gegen die geltende Feuerpause vor. Die OSZE-Beobachter haben in den vergangenen Tagen entlang der Demarkationslinie eine Verdoppelung der Schießereien gegenüber 2020 fixiert.

Schon vor einer Woche sollen ukrainische Truppen das Dorf Staromarjewka östlich des Flusses Kalmus eingenommen haben. Bis dato zählte Staromarjewka zur Pufferzone zwischen den beiden Frontlinien. Eigentlich sollten die Waffen aus diesem Gebiet abgezogen werden, um die Lage an der Front zu entspannen.

Zwar dementierte der Generalstab zunächst Meldungen über die Einnahme, doch Bild- und Videomaterial lassen wenig Zweifel daran, dass die 180 Seelen große Ortschaft inzwischen unter Kontrolle der ukrainischen Armee ist. So veröffentlichte der ukrainische Kriegsreporter Juri Butusow ein Video, wie Soldaten die ukrainische Flagge am Ortseingangsschild hissten.

Ukrainische Armee ließ sich nicht bitten

"Die Aufstellung eines Wachpostens, die Schaffung von Verteidigungspositionen und das Hissen ukrainischer Flaggen geschah als Antwort auf die vielen Bitten der örtlichen Bevölkerung, die von den Drohungen der russischen Okkupanten und den terroristischen Beschüssen alarmiert war", kommentierte Butusow die Bilder.

Vertreter des Separatistengebiets stellen die Lage völlig anders dar. Demnach sei Staromarjewka trotz seiner Lage in der Pufferzone Teil der sogenannten Donezker Volksrepublik (DVR), werde von ihr verwaltet und versorgt. Die Einwohner seien als Geisel genommen worden, erklärte Separatistenführer Denis Puschilin. Besonders betont Donezk dabei, dass in Staromarjewka auch 37 russische Staatsbürger lebten – die Vergabe von Pässen an die Bewohner der Region wird seit geraumer Zeit von Moskau betrieben.

Die Aussage dient offenbar dazu, Moskau zu einem härteren Eingreifen zu bewegen. Noch agiert der Kreml allerdings vorsichtig. Zwar kritisierte Außenminister Segrej Lawrow den "Verstoß gegen das Minsker Abkommen" scharf, doch hat es den Anschein, dass Russland selbst derzeit noch die Lage eruiert. Berichte über eine Konzentration russischer Truppen an der ukrainischen Grenze konnten jedenfalls bisher nicht verifiziert werden. Moskau selbst und auch Kiew dementierten sie, die USA hatten sich zuvor aber "alarmiert" gezeigt.

Warnungen vor der Offensive

Moskau beunruhigt in erster Linie der mutmaßliche Einsatz der türkischen Drohnen vom Typ Bayraktar durch die Ukraine. Im Krieg um Bergkarabach im Herbst 2020 haben die Aserbaidschaner die Drohne massiv eingesetzt und sich damit laut Militärexperten einen entscheidenden Vorteil gegen Armenien gesichert.

Die Ukraine hat nach dem Konflikt mehrere Waffenkomplexe des Typs gekauft. Im Donbass soll Kiew die Bayraktar-Drohne nun zunehmend einsetzen – zuletzt, um Artilleriegeschütze der Separatisten beim Kampf um Staromarjewka auszuschalten. Moskau besteht darauf, dass die Anwendung von Drohnen im Minsker Abkommen verboten wird – der Einsatz von Artillerie allerdings auch.

In russischsprachigen Medien kursieren Spekulationen, dass die Ukraine nun eine großangelegte Offensive plane. Tatsächlich ist Staromarjewka strategisch dafür ein günstiger Ausgangspunkt. Hier weisen die Separatistengebiete die schmalste Stelle auf – bis zur russischen Grenze sind es nur 30 Kilometer. Damit könnten die ukrainischen Truppen die Separatistenkräfte in eine Nord- und Südhälfte aufspalten.

Harte Gangart

"Sie haben seit langem das Ziel, bis an die Grenze nach Russland vorzustoßen und uns vom Meer abzuschneiden", meinte Puschilin, entsprechende Absichten erkannt zu haben. Kiew dementiert diesbezügliche Absichten.

Zumindest einige Indizien sprechen allerdings dafür, dass die Ukraine ihre militärischen Anstrengungen in der Region verstärkt. So hat die OSZE die Verlegung von Panzereinheiten in der Region festgehalten.

Auf politischer Ebene ist bemerkenswert, dass ausgerechnet jetzt der frühere Chef des paramilitärisch-radikalen "Rechten Sektors", Dmitro Jarosch, zum Berater des Oberbefehlshabers der ukrainischen Truppen, Waleri Saluschny, ernannt wurde. Jarosch kündigte daraufhin an, das Potenzial der Freiwilligenbataillone in der Armee zu stärken – eine durchaus umstrittene Aktion, da bei den Freiwilligen viele Nationalisten dienen.

Gleichzeitig hat die Rada am Mittwoch für die Entlassung von Verteidigungsminister Andrej Taran gestimmt. Seine Nachfolge soll der ebenfalls zurückgetretene Minister für Reintegration der okkupierten Gebiete, Alexej Resnikow, antreten. Dieser könnte eine schärfere Gangart der ukrainischen Truppen forcieren, heißt es. (André Ballin aus Moskau, 4.11.2021)