Am Istanbuler Taksim-Platz ersetzte ein neuer Kulturkomplex den baufälligen alten aus den 1970er-Jahren.

Atatürk Kültür Merkezi

Symbol neoosmanischer Pracht oder harmloses Herzstück? Der Opernsaal wird von Kritikern als "Roter Apfel" interpretiert.

Atatürk Kültür Merkezi

Symbolik hat in der Türkei großes Gewicht. Und so wurde auch der Zeitpunkt für die Eröffnung des neuen Atatürk-Kulturzentrums mit Bedacht gewählt. Letzten Freitag, am 98. Jahrestag der Gründung der Republik, dem Nationalfeiertag, an dem das ganze Land über und über beflaggt ist und an jeder Ecke dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gehuldigt wird, bekam Istanbul ein neues Wahrzeichen: Das Atatürk Kültür Merkezi, kurz AKM, erhebt sich mächtig am Taksim-Platz, jenem Ort im säkularsten Istanbuler Stadtviertel Beyoğlu, an dem das Republiksdenkmal steht und der auch in den letzten Jahren Austragungsort innenpolitischer Konflikte war.

Der Kulturtempel wurde in Rekordzeit von nur zweieinhalb Jahren bei rund 178 Millionen Euro Kosten errichtet. Er beherbergt den mit 2040 Sitzplätzen den viertgrößten Opernsaal der Welt, ein Theater mit 800 Sitzen, eine Bibliothek für Kunstliteratur, eine Galerie für Zeitgenössisches, ein Kino, ein Kinderkunstzentrum, einen Designshop, Gastronomie und einiges mehr. Das AKM spielt also alle Stückeln westlich orientierter Kulturindustrie.

Provokation oder Neustart?

Skeptiker hatten das so nicht erwartet. Denn als der seit 20 Jahren regierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan von der islamisch-konservativen Partei AKP 2017 verkündete, sich des Projekts anzunehmen, schwante manchen Böses: Würde es sich nahtlos einreihen in Erdoğans Reislamisierungs- und Reosmanisierungspolitik, die sich immer wieder in umstrittenen Bauprojekten spiegelt? Würde es nach der Rückwidmung der Hagia Sophia von einem Museum in eine Moschee erneut auf eine Provokation säkularer Kräfte hinauslaufen?

Die Befürchtungen hatten eine lange Vorgeschichte. Denn für den Neubau musste das alte Atatürk-Kulturzentrum, 1969 am selbigen Ort errichtet, abgerissen werden. Bis in die Nullerjahre hinein war es das säkulare Zentrum der Kulturmetropole Istanbul, untrennbar mit Atatürks Politik der Verwestlichung verbunden. Zuletzt aber war es extrem baufällig geworden und musste ab 2008 in Etappen geschlossen werden. Mehrere Anläufe für Sanierungen scheiterten.

2013 schließlich besetzten es Aktivisten der Proteste um den ebenfalls an den Taksim-Platz angrenzenden Gezi-Park, die sich bald zu landesweiten Anti-Erdoğan-Demonstrationen auswuchsen. Die Aktivisten wollten verhindern, dass der Park der Rekonstruktion einer osmanischen Kaserne inklusive Shoppingmall weicht.

Atatürk, säkular und sakrosankt

Die umstrittenen Bauten wurden letztlich verworfen, die Proteste polizeilich aufgelöst, das alte Kulturzentrum geräumt. Dass die Neukonstruktion des AKM nun doch sehr im Sinne Atatürks vonstattenging und das Gebäude weiter seinen Namen trägt, überraschte. Atatürk, der große Säkulare, ist auf seine Art dann aber doch sakrosankt. Eine Tilgung am Taksim-Platz wäre selbst für Erdoğan zu heikel gewesen.

In seiner Eröffnungsrede ließ es sich der Präsident zwar nicht nehmen, die Gezi-Proteste zu rügen, die nichts als "Chaos" hinterlassen hätten. Er, immerhin selbst im Stadtteil Beyoğlu geboren und einst Bürgermeister Istanbuls, beschwor aber auch das Bild der Stadt als ein bewahrenswertes Mosaik der verschiedenen Kulturen.

In der Formensprache des Gebäudes findet sich das Mosaik wieder. Als Architekt fungierte Murat Tabanlıoğlu, der Sohn von Hayati Tabanlıoğlu, der das alte Zentrum gebaut hatte. Der Sohn zitierte denn auch den Vater, vor allem an der Außenfassade: Sichtbeton gepaart mit neoklassischen Strukturen und viel gläserner Transparenz – keine Rekonstruktion, sondern Weiterentwicklung, heller, einladender, aber um nichts weniger imposant.

Herz oder roter Apfel?

In der zentralen Neuerung aber, einer riesigen, rot schimmernden Kugel im Inneren, in der sich der Opernsaal verbirgt, wollen einige dann doch eine versteckte Anspielung auf Erdoğans Neo-Osmanentum erkennen. Sie interpretieren die Kugel als "roten Apfel" – ein altes Symbol der Sultane, mit dem diese ihre Expansionsbestrebungen in Richtung Westen beschrieben: Konstantinopel war damit gemeint, Rom, schließlich auch Wien. Die türkischen Offiziellen hingegen lehnen diese Deutung ab, die rote Kugel sei vielmehr als "schlagendes Herz" der Metropole zu sehen. Und mit etwas Entspanntheit ließe sich außerdem anfügen, dass der rote Paradies-Granatapfel als Symbol ja durchaus in allen abrahamitischen Religionen seinen Platz hat.

Entscheidend wird ohnehin sein, mit welchem Inhalt der Kulturkomplex gefüllt wird. Organisatorisch hängt das Haus direkt am Ministerium für Kultur und Tourismus. Und zur Eröffnung ließ man gleich Ambivalenz sprechen: Zur Uraufführung kam die von Erdoğan selbst in Auftrag gegebene Oper Sinan über den wichtigsten osmanischen Baumeister nach der Eroberung Konstantinopels. Klar werden hier manche unken, Erdoğan sehe sich selbst in der Rolle des großen Bauherrn.

Den zweiten Tag bespielte dann das London Philharmonic Orchestra u. a. mit Mozart. In etwa dieser Tonart wird es vorerst weitergehen: Türkische Tradition trifft auf Klassik, Jazz, in Ansätzen auch auf Pop. Wie viel kritische, zeitgenössische Kunst sich künftig finden wird, wird sich erst zeigen. Für den Anfang aber ist der Paarlauf aus Tradition und Moderne wohl sogar heilsam im innertürkischen Konflikt. (Stefan Weiss aus Istanbul, 4.11.2021)