Wahlen werden in einer politischen Konstellation wie aktuell in der Türkei kaum zu einer wirklichen Gefahr für die autoritäre Partei an der Macht, sagt der Religionswissenschafter und Türkei-Experte Hüseyin I. Çiçek im Gastkommentar.

Die Inflation in der Türkei ist im Oktober auf fast 20 Prozent gestiegen. Das will sich die Opposition zunutze machen. Ob sie als Alternative zu Erdoğans AKP wahrgenommen wird, wird sich bei den Wahlen 2023 zeigen.
Foto: EPA / türkische Präsidentschaftskanzlei

Langsam mehren sich die Hoffnungen, und dies nicht nur in der Türkei, dass Wahlen im Jahr 2023 oder möglicherweise früher der Regierungsbeteiligung der AKP sowie Recep Tayyip Erdoğan ein Ende bereiten werden. Wie keine andere Partei davor – nimmt man die Gründungszeit der türkischen Republik davon aus – haben Präsident Erdoğan und seine AKP das politische System der Türkei verändert. Fast im Alleingang wurde von ihnen die Verfassung verändert und wurden unabhängige Institutionen sowie die Verwaltung der türkischen Nation in parteipolitische Abhängigkeit gebracht. Ebenso wurden militärische Abenteuer unternommen, die die Wirtschaft immer stärker in den Abgrund treiben. All dies wissen die Menschen in der Türkei auch. Erdoğans wichtigster Einschnitt ist jedoch, dass er die Transformation in der Türkei nicht nur aus politischen Gründen propagierte, sondern sich vor allem als einen lang erwarteten religiösen Heilsbringer in Szene setzt, dessen Politik eine vorherbestimmte Ordnung endlich etablieren kann.

Massive Eingriffe

Die heutige Stärke der AKP geht auch auf eine systematische Einschränkung der Presse zurück. Ebenso auf massive Eingriffe in die Judikative sowie die Polizei und das Militär. Seit dem "gescheiterten Putsch" 2016 wurde die Staatsgewalt mit neuen, der AKP nahestehenden Personen besetzt. Die Inhaftierung von charismatischen politischen Oppositionellen und die Entschlossenheit, historische Konflikt-Hypotheken – wie etwa den Kurdenkonflikt, die Anerkennung von Aleviten oder den Armenier-Genozid – und gegenwärtige geopolitische Machtinteressen – Syrien, Aserbaidschan, Afghanistan und Afrika – geschickt als Herausforderungen zu präsentieren, halfen die schrittweise autoritäre Politik nach innen und außen zu legitimieren. Wahlen dienen in einer solchen politischen Realität nur vordergründig als Legitimationsquelle; die Realität ist vielmehr, dass Wahlen in einer solchen politischen Konstellation kaum zu einer wirklichen Gefahr für die autoritäre Partei an der Macht werden.

Als religiöser Heilsbringer bezeichnet sich Erdoğan und immer wieder als "größter Liebhaber Alis", womit er alle Bemühungen alevitischer Gruppierungen in der Türkei, als eine Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden, beendet. Jahrhundertealte Traditionen und aktuelle Entwicklungen, die durchaus eine religiöse Anerkennung notwendig machen würden, laufen so ins Leere. Diese Politik dient ebenso dazu, der türkischen Religionsbehörde (Diyanet) den Rücken zu stärken und die sunnitische Dominanz sowie Selbstdefinition der Türkei nicht zu gefährden. Ebenso wird dadurch die Etablierung einer Religionsfreiheit im Sinne eines demokratisch-freiheitlichen Verfassungsstaates verhindert.

Perfekte Inszenierung

Der Eintritt in den syrischen Bürgerkrieg, die Afrikapolitik oder das Engagement in Afghanistan sollen – unabhängig von geopolitischen Interessen – die transnationalen islamischen Interessen des türkischen Präsidenten und der AKP untermauern. Auffallend ist, dass Ankara die Uiguren ihrem Schicksal überlässt, während die bisher wenig bekannten religiösen und kulturellen Übereinstimmungen der Türkei mit den Taliban von Erdoğan in den letzten Wochen immer mit Nachdruck in der Öffentlichkeit Erwähnung fanden.

Ein weiterer politischer Trumpf der AKP, den sie seit Jahren mit politischer Brillanz ausspielt, ist die Inszenierung von bevorstehenden Innovationen oder Errungenschaften, deren gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Gewinn noch in den Sternen steht. Im Vordergrund steht vor allem politische Semiotik. Unabhängig davon, ob es um ein türkisches Elektrokraftfahrzeug geht, die Eroberung des Weltalls oder sonstige Projekte, die die Türkei in Zukunft zu einer Wirtschaftsmacht werden lassen sollen, die laute Symbolsprache der AKP lässt Kritiker kaum hörbar werden. Dies ist ebenso ein Grund, weshalb die Opposition gegenwärtig und möglicherweise in Zukunft von Wahlberechtigten nur bedingt als eine Alternative wahrgenommen werden wird.

"Die türkische Diaspora in Österreich, in Deutschland, in Europa gehört zum politischen Zielpublikum."

Dafür sorgen selbstverständlich Erdoğan und dessen AKP. Ihren Wahlkampf, und dies steht mittlerweile allen Türkei-Experten deutlich vor Augen, führt der türkische Präsident nicht nur auf anatolischem Boden, sondern bereits über die Grenzen der Türkei hinweg. Die türkische Diaspora in Österreich, in Deutschland, in Europa gehört zum politischen Zielpublikum. Über die europäischen Achsen der AKP, wie etwa den Thinktank Seta oder die Lobbyorganisation Uid, wird schon seit geraumer Zeit Interessenpolitik in Europa umgesetzt.

Die wiederkehrenden Drohungen gegen Botschafter oder die Nichtbeachtung von internationalen Menschenrechtsorganisationen sind ein notwendiges Machtspiel des türkischen Präsidenten, um seine autoritäre Politik im Inneren und expansiv nach außen zu legitimieren. Und das nicht nur durch herkömmliche Realpolitik, sondern ebenso im Gewand einer religiös determinierten Heilsbringer-Politik, die den türkischen Präsidenten und dessen Politik attraktiver machen soll, als sie in Wirklichkeit ist. (Hüseyin I. Çiçek, 4.11.2021)