Stellenanzeigen in Schaufenstern sind in den USA derzeit keine Seltenheit.

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Ein Phänomen beschäftigt die USA, das anfangs nur als statistischer Ausreißer betrachtet wurde. Aus dem Ausreißer wurde ein Trend. Inzwischen sprechen Arbeitsmarktexperten sogar von einer weltweiten Entwicklung, die auch in Europa zu beobachten ist. Seit dem Frühjahr laufen den amerikanischen Unternehmen in Scharen die Arbeitskräfte weg. Erst waren es ein paar wenige hunderttausend. Im April dann waren es vier Millionen, fast doppelt so viele Kündigungen wie zu Beginn der Pandemie vor einem Jahr. Diesen August nun ein neuer Rekord: 4,3 Millionen gekündigte Stellen, so viele wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr.

"The Great Resignation" wird dieses Phänomen in den USA bezeichnet. Resignation wie "sich selbst aufgeben" – oder eben auch wie: "Kündigung". Eine Umfrage von Microsoft hat ergeben, dass 41 Prozent der 30.000 befragten Angestellten in 31 Ländern mit dem Gedanken spielen, ihren Job aufzugeben. In Amerika soll es laut Meinungsforschungsinstitut Gallup sogar fast jeder Zweite sein. Vor allem Angestellte in den mittleren Jahrgängen sind auf dem Sprung. Die Zahl der 30- bis 45-jährigen Amerikaner, die seit 2020 ihren Job gekündigt haben, ist um 20 Prozent gestiegen. Seit August gibt es mehr offene Stellen als Arbeitssuchende in den USA. Am härtesten betroffen sind der Einzelhandel und die Gastronomie.

Viele offene Stellen

"Help wanted", "We are hiring!" oder "Now hiring": Ob in New York City oder in Springfield, in der Provinz von Virginia, kaum ein Geschäft oder ein Restaurant ohne ein Stellenangebot im Schaufenster. Ein Grund für die Jobflucht könnte das vergleichsweise höhere Ansteckungsrisiko mit Covid-19 in Serviceberufen sein. Arbeitsmarktforscher vermuten allerdings noch andere, tieferliegende Gründe hinter dem Jobexodus. "Für Millionen von Arbeitnehmern war die Pandemie Anlass, um über ihr Leben nachzudenken", so Anthony Klotz von der Texas A&M University. Der Arbeitsmarktexperte hatte die aktuelle Entwicklung schon vor Monaten vorhergesagt. "Diese Überlegungen, in Kombination mit dem Burnout, den die Arbeit während der Pandemie bei vielen Menschen verursachte, führte bei vielen zu einem Umdenken."

Laut einem aktuellen OECD-Bericht hat die Zahl der offenen Stellen international "dramatisch" zugenommen. Allein in den 38 OECD-Mitgliedsländern sind heute rund 20 Millionen Arbeitnehmer weniger beschäftigt als noch vor der Pandemie. Grund sind vor allem Angestellte, die komplett aus dem klassischen Arbeitsmarkt ausgestiegen sind und aktuell auch gar keinen neuen Job suchen. Die Daten des US-Büros für Arbeitsmarktstatistik zeigen: Gerade ältere Arbeitnehmer haben sich – sofern sie es sich leisten konnten – frühzeitig in den Ruhestand verabschiedet. Zu den "Quittern" gehören aber auch jüngere Beschäftigte, die sich eine Auszeit nehmen. Offenbar haben viele von ihnen festgestellt, dass sie auch mit weniger Geld über die Runden kommen.

Neues Kräfteverhältnis

Es scheint, als habe sich etwas fundamental verschoben im Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Für viele Angestellte war die Pandemie eine Art Weckruf. Sie haben gelernt, zu Hause zu arbeiten, zu Hause zu essen, die Kinder zu unterrichten und zu betreuen. Und sie haben eine neue Form von Work-Life-Balance entwickelt, die sich nur schwer mit oft undankbaren Schichtplänen oder unwürdigen Arbeitsbedingungen vereinbaren lässt. Einer Umfrage der Karriereplattform Linkedin zufolge hätten 74 Prozent der Befragten den Corona-Lockdown zum Anlass genommen, ihre Arbeitszufriedenheit neu zu bewerten.

Von der immensen Nachfrage an Arbeitskräften profitieren vor allem die Job-Hopper. Im Schnitt verdienen sie in ihrem Folgejob 5,4 Prozent mehr als bei ihrem früheren Arbeitgeber. Ein Zuwachs wie seit 20 Jahren nicht mehr. "Unternehmen, die ihre Mitarbeiter halten wollen, oder auch neue gewinnen wollen, reagieren, indem sie die Löhne erhöhen, die Sozialleistungen verbessern und auch damit beginnen, das Arbeitsumfeld der Mitarbeiter zu verbessern", so der Management-Professor Anthony Klotz aus Texas. "Das könnte man durchaus als Stärkung der Position der Arbeitnehmer werten."

Besucheransturm

Jennifer aus Georgetown arbeitet in der Frühschicht bei Starbucks. Noch. Sie überlegt, zu Whole Foods zu wechseln, einem Supermarkt, der zum Amazon-Konzern gehört. "Bessere Arbeitszeiten", sagt die 58-Jährige. "Und: Ich bekomme Aktien!" Tatsächlich: Die Stundensätze im Billiglohnsektor, dazu zählt auch Amazon, sind in den letzten Monaten so rasant gestiegen wie seit der Rezession vor 13 Jahren nicht mehr. Die Folge: Immer mehr "Gig-Worker", die von Tech-Plattformen wie dem Fahrdienstleister Uber oder dem Lieferdienst Door Dash als billige Lohnarbeiter eingesetzt werden, werfen das Handtuch.

Nach den pandemiebedingten Schließungen erlebt die Hotel- und Gastronomiewirtschaft in weiten Teilen der USA aktuell einen Besucheransturm. Die Wartezeiten in vielen Lokalen sind heute schon ungewöhnlich lang, weil die Tische nicht bedient werden können. Wenn am 8. November nach 19 Monaten die Einreisebeschränkungen fallen, hoffen US-Metropolen wie New York, Miami oder Los Angeles auf eine Rückkehr der Touristen. Ein langersehntes Comeback, das ohne zusätzliche Köche, Kellner oder Servicekräfte zum Problem werden könnte.

Folgen für die Wirtschaft

Doch auch andere Branchen suchen dringend Verstärkung: Aufgrund der weltweiten Lieferengpässe und einer nur schwer kalkulierbaren Logistik herrscht in den USA seit Monaten ein Mangel an Truck-Fahrern, Fracht- und Lagerarbeitern. Sollten diese offenen Stellen nicht besetzt werden, könnte das langfristige Folgen für die gesamte Wirtschaft haben. Viele Geschäfte können ihre Kunden nicht bedienen, obwohl die Nachfrage da ist, was die Probleme der Unternehmen weiter verschärft und diesen noch weniger Handlungsspielräume bei den Löhnen lässt. Ein Teufelskreislauf, Ausgang ungewiss. (Richard Gutjahr aus Washington, 8.11.2021)