Zubin Mehta, explosive Kraft, sinnlich-betörende Momente.

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Mit langsamen Schritten bahnte sich Zubin Mehta im großen Saal des Wiener Konzerthauses den Weg zum Pult des Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino. Erst im April feierte der Maestro seinen 85. Geburtstag. Mit 18 Jahren kam der "Weltbürger und Jahrhundertmusiker" zum Studium nach Wien – später bezeichnete er sich selbst als "ein zufällig in Indien geborener Wiener".

Mit seinen Orchestern pflegte Mehta stets Langzeitbeziehungen. Erst kürzlich feierte er seinen Fünfziger mit den Berliner und den Wiener Philharmonikern sowie der Israel Philharmonic. Über drei Jahrzehnte prägte er zudem als Chefdirigent den Klang des Florentiner Orchesters, dessen Ehrendirigent er auf Lebenszeit ist.

Mit Anton Bruckners 9. Symphonie trafen in Wien am Mittwoch florentinische Klangkunst auf oberösterreichische Klangarchitektur. Physisch spürbar war die innere Spannung, wenn die Neunte zu Beginn des ersten Satzes gleichsam aus dem Nichts erwächst, ehe sich das Hauptthema in seiner vollen Größe entfaltet und im dreifachen Forte des vollen Orchesters mit straff punktiertem Rhythmus und weiten Intervallsprüngen herabstürzt. So muss es klingen, wenn sich die Erde öffnet. Schauderhaft schön.

Unvollendetes Meisterwerk

Fast zehn Jahre arbeitete Anton Bruckner an seiner neunten Symphonie, und doch blieb das Meisterwerk unvollendet. Monumentale Architektur und kühne Harmonik, Exzentrik und Spiritualität prägen Bruckners symphonisches Schaffen. Die Neunte ist da keine Ausnahme – im Gegenteil. Sie präsentiert sich schroffer, kantiger, zerrissener als ihr Vorgängerinnen – wenn sich etwa die spätromantische Idylle zu Beginn des zweiten Satzes in unheimliches maschinelles Gestampfe verwandelt.

In Anton Bruckners Musik tun sich neue Welten auf. Bei Zubin Mehta ziehen sie einen rauschhaft in den Bann. Er lässt den Klängen viel Raum, um zu wirken, und kostet die weiten Melodiebögen aus, ohne sich von den Klangmassen überrollen zu lassen. Dass Bruckner es hervorragend verstand, die explosive Kraft der Musik plakativ einzusetzen und zugleich betörend-sinnliche Momente zu schaffen, zeigt sich im finalen Adagio.

Zubin Mehta nimmt den letzten Satz bewusst etwas langsamer, arbeitet die leisen Stellen behutsam heraus und lässt dem Orchester Entfaltungsfreiräume im Bruckner'schen Klangmassiv zwischen Leid und Schmerz, Sehnsucht und Resignation, pastoralen Idylle und göttlichem Frieden. (Miriam Damev, 4.11.2021)