Für die Menschen könnte eine schrittweise Verpflichtung zur Impfung auch entlastend wirken, sagt der Psychohistoriker und Organisationsberater Christian Lackner im Gastkommentar.

Typisches Verhalten in Ausnahmesituationen: Aktionismus wie Toilettenpapier hamstern.
Foto: Imago Images / Frederic Kern

Die überall zu beobachtenden, durch die Corona-Pandemie ausgelösten Verhaltensreaktionen sind weder neu noch unerforscht. Sowohl einzelne Menschen als auch kleine wie große Gruppen reagieren nach bestimmten Mustern, wenn sie unter Druck geraten, sie sich in einem Dilemma befinden. Was die Pandemie für alle sichtbar an die mediale Oberfläche geschwemmt hat, kennt man auch von Krisensituationen in Organisationen oder deren Teilbereichen oder aus experimentellen gruppendynamischen Lernsettings, wie sie etwa an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt über Jahrzehnte entwickelt wurden.

Das typische Verhalten in Ausnahmesituationen ist reflexartig und emotionsgeladen, sucht schnelle Entlastung, leistet so aber einer Leugnung der eigentlichen Problematik Vorschub und wird selbst zum Problem. Während im Rahmen von experimentellen Settings oder durch professionelle Beratungskonstellationen dysfunktionalem Verhalten durch oft schmerzhaftes analytisches Reflektieren meist beizukommen ist, hat man es bei der Pandemie mit "Bühnen" – vornehmlich sozialen Medien oder in sich geschlossenen Kreisen – zu tun, wo eine kritische Selbstbetrachtung gemieden wird wie vom Teufel das Weihwasser. Überzeugungsversuche sind überaus mühsam und helfen in der Regel auch nichts. Ignorieren geht dann nicht, wenn alle Beteiligten direkt oder indirekt in Abhängigkeit zueinander stehen, was bei einer Pandemie klarerweise der Fall ist.

Fünf Phänomene

Die am häufigsten auftretenden Verhaltensphänomene von Gruppen in Drucksituationen sind: 1. Aktionismus, 2. Schuldige suchen, 3. Umkonstruktion von Wirklichkeit, 4. Sich dem Schicksal ergeben, 5. Abbruch von Kommunikation.

Das Pandemiegeschehen hat dafür massenhaft Beispiele geliefert und tut es in der Frage der Impfung immer noch. Wie anders als aktionistisch ist es zu nennen, wenn plötzlich Toilettenpapier aus den Regalen von Kaufhäusern verschwindet oder Menschen panikartig aus Skigebieten abreisen und damit die Lage verschlimmern. Der psychologische Vorteil des Tuns um des Tuns willen liegt in der Suggestion von Beherrschbarkeit einer scheinbar ausweglosen Situation, sie ist aber auch Ursache für gravierende Fehlentscheidungen. Aktionismus hat immer einen Begleiter an der Seite, die quälenden Phasen der Lähmung und Leere. Auch das bekommen wir in Pandemiezeiten vorgeführt.

Suche nach Schuldigen

Kaum ein Drang ist stärker, als jemanden ausfindig zu machen oder präsentiert zu bekommen, der für meine Misere schuld ist. Zahlreiche Gesundheitsminister weltweit sind während der Pandemie diesem Gemetzel zum Opfer gefallen. Selbst Wissenschaft wird wie eine fantasierte dunkle Macht zu einer realen Gefahr hochstilisiert, die im Konzert mit "der Politik" und "der Wirtschaft" einem an den Kragen will. Wie der Impuls zu aktionistischem Verhalten hat auch das Suchen nach Schuldigen eine lange Tradition. Individuell wie kollektiv entlastend wirkt dabei die Projektion von Schuldgefühlen auf ein außenstehendes Subjekt. Man wird so selbst zum Opfer in Form eines selbstgerechten Opfernarzissmus, worin es sich durchaus suhlen lässt, solange man die nötige Aufmerksamkeit auf sich zieht. Opferhandlungen brauchen Wiederholung, weil die erwünschte Wirkung, wenn überhaupt, nur zufällig eintritt und der Wunsch nach der Aufrechterhaltung der eigenen Integrität immer wieder gesättigt werden will.

Fantastische Welten, Geschichten über Himmel und Hölle, über Verderben und Erlösung hat es immer schon gegeben, und sie haben den Menschen Furcht eingeflößt oder ihnen Hoffnung gemacht. Die Pandemie hat die Welt um viele neue Wirklichkeitskonstruktionen reicher gemacht. Es ist nicht verwerflich, durch Illusionsbildung Realität umzugestalten und damit erträglicher zu machen. Zum Problem wird es dann, wenn bei gemeinsamen Problemlagen keine gemeinsame Sprache und Weltvorstellung mehr gefunden werden kann. Dass dies manchmal als schicksalhaft angesehen wird, ist ein Wesenszug, dem zuweilen nachgesagt wird, typisch österreichisch zu sein.

Entlastende Wirkung

Die Debatte um die Impfpflicht bereicherten nicht zuletzt DER STANDARD und ORF-Reportagen über Gebiete in Österreich, wo die Impfung besonders kritisch gesehen wird, und dass vielerorts Resignation das Feld beherrscht. Es kommt zur Spaltung. Aktionismus, Feindbildkonstruktion und die Umkonstruktion von Wirklichkeit gelingen besser im Kreis von Gleichgesinnten, wo nicht selten der Zusammenhalt an eine im Vorder- oder Hintergrund wirkende Führungsfigur delegiert wird – aus purer Not und Verzweiflung.

Gegen eine Impfpflicht spricht eine mögliche weitere Polarisierung. Im Gegenzug könnte eine schrittweise Verpflichtung zur Impfung für jene Menschen entlastend wirken, die genug davon haben, sich immer wieder in die beschriebenen Verhaltensmuster flüchten zu müssen.

Nicht nachvollziehbar ist für mich der politische Eiertanz in einer eigentlich völlig eindeutigen Situation, wo doch staatliche Autoritäten sonst weniger zimperlich handeln. Mit dem Nachlassen der Drucksituation durch das Ende der Pandemie werden die Symptome ohnehin wieder leiser werden. Die sozialen Risse, die zutage gefördert wurden, wird man allerdings nicht so schnell wieder los. (Christian Lackner, 5.11.2021)