Die Familie von Michael H. hält jeden Sonntag eine Mahnwache vor der Justizanstalt Stein, um auf Probleme im Strafvollzug hinzuweisen.

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Am Sonntag, dem 24. Oktober 2021, hat sich in der Justizanstalt Stein ein 42-jähriger Insasse in seiner Zelle das Leben genommen. Die Staatsanwaltschaft Krems hat nun Ermittlungen gegen unbekannte Täter aufgenommen und eine Obduktion in Auftrag gegeben, da der Mann wegen eines Suizidversuchs vor wenigen Wochen bereits in einer videoüberwachten Zelle untergebracht war. Ein etwaiges Fremdverschulden an dem Tod soll geklärt werden. Die Angehörigen des Opfers halten nun regelmäßig Mahnwachen vor der Justizanstalt Stein, um auf systemische Mängel im Maßnahmenvollzug aufmerksam zu machen.

"Die Lebensgeschichte vom Michael war keine einfache", sagt der Bruder des Opfers. Schon in der Schulzeit habe er mit Depressionen zu kämpfen gehabt. Später sei Michael H. auch Opfer von sexueller Gewalt geworden. Als seine frühere Lebensgefährtin die Beziehung beendete und einen neuen Partner fand, habe Michael es einfach nicht verstanden, sagt seine Schwägerin. Eines Abends hat er die Ex-Freundin gefährlich bedroht – und wurde dafür 2017 zu acht Monaten Haft verurteilt. Wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit aufgrund der Diagnose "kombinierte Persönlichkeitsstörung" sowie "seelische/geistige Abnormität höheren Grades" wurde er zusätzlich in den Maßnahmenvollzug eingewiesen.

"Engmaschige Betreuung" laut Ministerium

"Es mag sein, dass er damals weggesperrt gehört hat, aber bitte mit entsprechender Betreuung", sagt der Bruder. Ein Gefängnis sei jedenfalls nicht der richtige Ort für Michael gewesen. "Eine adäquate Betreuung hat er in den Justizanstalten nicht bekommen", sagt Anwältin Astrid Wagner. Mit ihrer Hilfe hat Familie H. mehrere Jahre für H.s Freilassung und eine intensivere Behandlung gekämpft. Ein externer Psychiater, den die Familie organisiert hatte, sollte helfen, doch dieser habe laut Wagner ab dem Beginn der Corona-Pandemie nicht mehr in die Justizanstalt dürfen. Beim Justizministerium wollte man auf Nachfrage nicht näher bekanntgeben, in welchem Ausmaß H. psychologisch betreut wurde. "Selbstverständlich wurde der Insasse der Justizanstalt Stein engmaschig betreut", heißt es in einer Stellungnahme. "Viel zu wenig", so das Urteil seiner Familienangehörigen.

Systemisches Versagen

"Dem Beamten, der die Zelle überwacht hat, mache ich am wenigsten einen Vorwurf", sagt der Bruder von H. Es sei zwar möglicherweise eine Aufsichtspflicht verletzt worden, der Grund für den sich verschlechternden psychischen Zustand seines Bruders sei aber systemisches Versagen und nicht das Verschulden eines Einzelnen.

"Der Michael hat gedacht, er kommt da nie wieder raus. Man hat gesehen, wie er an dem Gedanken zugrunde geht", sagt der Bruder. Bei Untergebrachten im Maßnahmenvollzug wird die Gefährlichkeit jedes Jahr in einer Gerichtsverhandlung neu beurteilt. Ist sie nicht ausreichend abgebaut, wird die Maßnahme, zu der auch die weitere Inhaftierung gehört, verlängert. Im Fall von Michael H. hat bereits 2019 ein Gutachter die Entlassung in ein betreutes Wohnen empfohlen. Dem gegenüber stand laut Anwältin Wagner eine Stellungnahme des psychologischen Dienstes der Justizanstalt Stein, die für den Verbleib in Haft plädierte. Zum Zeitpunkt seines Suizids hatte Michael H. seine ursprüngliche Haftstrafe von acht Monaten bereits seit fast vier Jahren abgesessen.

Staat hat eine Verpflichtung

"Im Rahmen dessen, was der Strafvollzug leisten kann, trifft den Staat eine Verpflichtung, für die Gesundheit und das Wohlergehen der Häftlinge zu sorgen", sagt Monika Stempkowski vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat bereits in mehreren Verfahren eine Verpflichtung des Staates festgestellt, Personen in seiner Obhut vor Suizid zu schützen, besonders psychisch Kranke. Kommt der Staat dieser Pflicht nicht nach, haftet er auch dafür. Aufgrund dieser Verpflichtung gibt es im österreichischen Strafvollzug natürlich auch Vorkehrungen zur Suizidprävention, erklärt Stempkowski. Ob trotzdem jemand Schuld an dem Tod des Mannes trägt, wird die Justiz erst klären müssen. (Johannes Pucher, Levin Wotke, 4.11.2021)