Die Intrige, sagt Konrad Paul Liessmann, ist ein Medium der Macht – nicht nur für die Politik genretypisch.

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Sebastian Kurz selbst bezeichnete die Politik in einem Interview mit der "Zeit" einmal als "Intrigenstadl". Das war 2012, er war 26 und seit eineinhalb Jahren Integrationsstaatssekretär. Fünf Jahre später war Kurz ÖVP-Chef und Kanzler. Sein Vorgänger an der Parteispitze, Reinhold Mitterlehner, sprach damals von "Putsch" und "Intrigen", wenngleich er 2019 bei der Präsentation seines Buchs "Haltung" auch meinte: "Eine normale Intrige im Bereich der Volkspartei kostet mich nicht einmal ein Wimpernzucken." Die "unnormale" Intrige ist mittlerweile aufgeflogen, Kurz ist Ex-Kanzler und juristisch Beschuldigter. Wie "normal" ist die Intrige in der Politik? Gilt: Macht vor Moral?

STANDARD: Nach allem, was über die Causa Kurz und Co aus dem schier unendlichen Chat-Fundus von Thomas Schmid ruchbar wurde – haben wir es hier mit dem klassischen Beispiel einer politischen Intrige zu tun?

Liessmann: Die Art und Weise, wie Sebastian Kurz und seine Umgebung innerhalb der ÖVP an die Spitze gekommen sind, erinnert doch in manchen Zügen an eine klassische Intrige. Wie der Sturz von Reinhold Mitterlehner in die Wege geleitet wurde, wie offenbar Druck gemacht und konspiriert wurde, wie politische Erfolge vereitelt werden sollten, um ihn als Obmann untragbar zu machen, das ist das, was man früher eine Palastintrige genannt hat, also eine Intrige innerhalb einer Gesinnungsgemeinschaft. Gegen den politischen Gegner kann man ja gar nicht intrigieren, den muss man bekämpfen, wobei die Mittel lauter oder unlauter sein können.

Der ÖVP-Chef und sein Nachfolger – was Reinhold Mitterlehner (links) damals, im Oktober 2016, noch nicht wusste, vielleicht ahnte. Acht Monate später, am 1. Juli 2017, wurde Sebastian Kurz in Linz zum neuen Obmann der ab dann "neuen Volkspartei" gewählt.
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STANDARD: Was zeichnet eine politische Intrige also besonders aus?

Liessmann: Sie geschieht im engsten Umfeld von Personen und ist deshalb gleichermaßen gefährlich und infam. Gefährlich, weil man ja nicht vermutet, dass Parteigenossen, enge Mitarbeiter, vermeintlich loyale Untergebene, womöglich Freunde gegen einen intrigieren. Und infam, weil es uns moralisch besonders problematisch erscheint, gegen die eigene Gemeinschaft, gegen Menschen, die einem vertrauen, zu intrigieren, um die eigenen Ziele zu erreichen. Dennoch gehört die Intrige, seit es Politik gibt, zum Geschäft der Politik, gerade dann, wenn es um interne Machtkämpfe geht.

STANDARD: Der ehemalige deutsche Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) sagte dazu einmal: "Intrigen sind das Nebengeräusch der Politik."

Liessmann: Wenn man sich die Geschichte der Politik anschaut, könnte man in der Tat diesen Eindruck gewinnen, denn immer schon wurden Machtkämpfe auch mit den Mitteln der List und Hinterlist, der Täuschung, der Unterstellung, der Verbreitung von Gerüchten, der konspirativen Verschwörungen geführt. Ich denke, dass die Intrige als ein Medium der Macht naturgemäß zum weiten Umfeld von Machtstrategien gehört. Intrigen gibt es deshalb überall, wo es um Macht geht: in Unternehmen, in der Filmindustrie, in den Medien, in Beziehungen. Aber die Intrige hat auch noch andere Aspekte. Es gibt ja Intriganten, denen es gar nicht um die eigene Macht geht, sondern die nur Destruktion verbreiten wollen. Der berühmteste ist Jago aus Shakespeares "Othello". Der will ja gar nicht an Othellos Stelle treten, sondern er will nur alles zerstören, was dieser Mann, dessen engster Vertrauter er ist, für ihn verkörpert. Auch hier wieder die klassische Konstellation: Der Intrigant kann dein – vermeintlich – bester Freund sein.

STANDARD: Was ist am wichtigsten, damit eine Intrige gelingen kann?

Liessmann: Eine Intrige kann nur gelingen, wenn man die Person, gegen die man intrigiert, wirklich gut kennt. Den Intriganten kennzeichnet Menschenkenntnis und psychologisches Einfühlungsvermögen. Er muss genau wissen, wo er jemanden treffen kann, muss die Schwachstellen des Gegenübers erkennen und ein Gespür dafür haben, welchen Charakter jemand hat, wie belastbar jemand ist. Ich komme nochmals auf den berühmtesten Intriganten der Weltliteratur, Jago, zurück: Wäre Othello kein besonders eifersüchtiger Mensch gewesen und hätte Jago nicht gewusst, dass der Feldherr tatsächlich von Eifersucht zerfressen wird, dann wäre die Intrige ins Leere gelaufen. Othello hätte vielleicht gesagt, na ja, Desdemona hat eben ihr Taschentuch verloren, was soll’s, sie bekommt ein neues – und wir hätten keine Intrige, dann aber leider auch keine geniale Tragödie (lacht). Dieses psychologische, fast könnte man sagen: empathische Einfühlungsvermögen macht den Intriganten so faszinierend und gleichzeitig gefährlich. Er muss sich ja ins Vertrauen der Menschen, gegen die er intrigieren wird, einschleichen können. Der Intrigant muss also auch ein guter Schauspieler sein, weil er immer auf zwei Ebenen agiert: Er muss den loyalen Mitarbeiter, den verständnisvollen Freund, den treuen Ratgeber mimen, obwohl er im Hintergrund schon ganz andere Fäden spinnt.

STANDARD: Sebastian Kurz hat im eingangs angesprochenen "Zeit"-Interview auf die Frage "Sollten Sie durch irgendeinen blöden Zufall doch zu lange in der Politik bleiben, befürchten Sie, dass Ihre Persönlichkeit dabei Schaden leidet?" geantwortet: "Charakterlich tut das wahrscheinlich nicht ewig gut. (...) Es ist ein totaler Intrigenstadl. Ein System, in dem man darum kämpfen muss, in der Sache was zu bewegen." Ist Wissen über das System Politik auch intrigenerfolgsnötig?

Liessmann: Ja, ganz sicher. Politik ist mittlerweile ein ausdifferenziertes Subsystem unserer Gesellschaft mit eigenen Regeln und auch Fallstricken. Natürlich auch gefärbt durch die historische Dimension der einzelnen Parteien. Da hat man dann auch jeweils eine andere Form der Intrigenkultur. Ich darf daran erinnern, dass gerade in linken, vor allem kommunistischen Parteien im 20. Jahrhundert die Intrige dazu geführt hat, dass Menschen nicht nur ihren Job verloren haben, sondern ihren Kopf. Die stalinistischen Schauprozesse waren auch Resultat von Intrigen, es wurde hemmungslos mit Unterstellungen, Verleumdungen und Denunziationen gearbeitet. Intrigen sind kein Phänomen nur einer bestimmten politischen Richtung.

STANDARD: Haben es Intriganten heute eigentlich schwerer als früher? Hätten die Akteure der Causa Kurz keine Whatsapp-Chats geschrieben oder Time-Capsules eingerichtet, sondern einander konspirativ getroffen, sie wären vermutlich nie aufgeflogen ...

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Liessmann: Vermutlich, allerdings haben Intriganten immer schon Fehler gemacht. Siehe Othello: Auch Jagos Intrige ist aufgeflogen – wenn auch sehr spät –, er wurde von seiner Frau "verraten". Hätte diese geschwiegen, wäre Othello dumm gestorben. Irgendwann kann sich jeder verplaudern. Deswegen scheitern Intrigen ja auch immer wieder oder fliegen Intriganten auf. Dieser Chatverkehr, um den heute so viel Aufhebens gemacht wird, ist nichts anderes als die technisch avancierte Form eines Sich-Verplauderns. Das hat natürlich auch menschliche Hintergründe, denn es gehört zur Psychopathologie des Intriganten, dass er sich, gerade wenn er erfolgreich ist oder sein will, niemandem gegenüber mit diesem Erfolg brüsten darf, weil er immer Angst haben muss, verraten zu werden. Wir leben jetzt aber in einer Zeit, in der nichts wichtiger ist, als sich überall als der große Macher und Könner zu präsentieren – nur der Intrigant darf da nicht mitspielen. Er muss seinen Erfolg ganz allein im stillen Kämmerlein genießen. Auf Dauer hält das wahrscheinlich kein Mensch aus.

STANDARD: Aus der Kurz-Verteidigungsecke kam der biblische Satz: "Der werfe den ersten Stein", es habe doch jeder und jede irgendwelche nicht ganz saubere, liebe, menschenfreundliche, hehre Nachrichten im Handy ... Sie haben mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier ein Buch mit genau diesem Titel geschrieben. Ist das nicht fast ein Generalablass? Damit kann man ja so gut wie alles entschuldigen.

Liessmann: Wo strafrechtliche Verfehlungen vorhanden sind, schlägt das Strafrecht zu und soll es auch. Aber worauf Jesus mit diesem Satz abzielte, und das ist für mich auch der Kern dieser Debatte, ist die Frage der moralischen Verurteilung, die ja noch dazukommt. Gerade bei den letzten Diskussionen haben wir immer feinsäuberlich getrennt: Das eine ist das Strafrecht, da entscheidet die unabhängige Justiz, das andere ist die moralische Dimension. Darf man als Verantwortungsträger solche peinlichen Chats verschicken? Welches Menschenbild kommt hier zum Ausdruck etc.? Gegenüber solchen moralischen Anschuldigungen finde ich den Satz "Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein" schon ganz interessant. Ein Richter kann kraft seines Amtes völlig zu Recht jemanden verurteilen, ganz egal, wie er sich selbst in seinem Privatleben verhält. Das hat damit nichts zu tun. In Moralfragen sind aber alle Beteiligten als moralische Subjekte gefordert, da kann ich mich nicht rausnehmen und sagen, die Moral gilt für die anderen, aber nicht für mich. Da ist die Frage, wie du es denn selbst mit den Maßstäben hältst, die du an andere anlegst, sehr wohl berechtigt. Entschuldigt wird dadurch übrigens nichts.

STANDARD: Haben Sie einen konkreten Anlass im Hinterkopf?

Liessmann: Ich habe mich in diesem Zusammenhang ein bisschen gewundert, dass bei der Videofalle, die für Heinz-Christian Strache auf Ibiza aufgebaut wurde, die moralische Dimension nie diskutiert wurde. Die Falle ist ja auch eine klassische Form der Intrige, und man könnte auch fragen, ob es nicht eigentlich moralisch verwerflich ist, jemanden im Unklaren zu lassen, in welcher Situation er ist, ihn ohne seine Zustimmung zu filmen, um das Material dann gegen ihn zu verwenden. Ich habe schon als Jugendlicher eine intuitive Abneigung gegen TV-Formate wie versteckte Kamera gehabt. Ich habe es immer als unmoralisch empfunden, Menschen in unangenehme Situationen zu locken, sie wissen nicht, dass das Ganze angeblich nur ein Spaß oder ein Spiel ist, sie werden dabei gefilmt und dadurch auch bloßgestellt. Ich finde es interessant, dass dies während des ganzen Ibiza-Ausschusses nie diskutiert wurde. Das heißt, wenn ich jemanden aus vermeintlich richtigen politischen Gründen zu Fall bringen will, ist jedes Mittel recht, nur dem politischen Gegner möchte ich dies nicht zugestehen. Das ist für mich moralisch doch höchst ambivalent. Und in dem Sinn verstehe ich dieses "Der werfe den ersten Stein" schon auch als eine Aufforderung, über die Reziprozität von moralischen Anforderungsprofilen nachzudenken. (Lisa Nimmervoll, 8.11.2021)